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Entdeckendes Lernen e.V.

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Karin Ernst

"Frag' die Bohne - sie hat immer recht!" -
Anmerkungen zum Entdeckenden Lernen im Offenen Unterricht

Veröffentlicht in leicht gekürzter Form in:
1) Die Grundschulzeitschrift 11/1988, S. 24f.
2) Die Grundschulzeitschrift, Sonderheft zum Bundesgrundschulkongreß, Sept. 1989, S. 50f.
3) Metamorphosen, Heft 12-22, Feb. 1991. S. 38-42.

Vollständig abgedruckt in:
Grundschultreffen Entdeckendes Lernen, Klingberg 1987, Lernwerkstatt Berlin 1988, S. 46-50.
© Karin Ernst 1988, 2001.


Eigentlich hatte ich es immer für selbstverständlich gehalten: Man "öffnet" seinen Unterricht allmählich, und je mehr die Kinder als unterscheidbare Persönlichkeiten sichtbar werden und je mehr die Themen, die im Mittelpunkt des Unterrichts stehen, die Kinder faszinieren, weil sie etwas mit ihrem Leben zu tun haben, desto mehr wird schulisches Lernen zu einer Möglichkeit, sich einen Reim auf die Welt zu machen, und desto mehr treten die Zutaten des traditionelleren Unterrichts in den Hintergrund - das Ausfüllen von Arbeitsbögen als einzige Tätigkeit, das (Schul)buch als einzige Informationsquelle, die richtige Benennung von Gegenständen und das Hersagen von Merksätzen als Beweis für Lernen, ... Weit gefehlt! Stattdessen folgende Szene:

In einem mit anregenden Materialien gut ausgestatteten Klassenzimmer sitzt Nadire und schreibt sorgfältig aus einem Sachbuch einen Text über das Eichhörnchen ab. Einen Text, der mir, als ich ihn lese, für eine Zweitklässlerin, für die Deutsch dazu nicht die Muttersprache ist, reichlich kompliziert erscheint. Ich frage Nadire, was sie denn da schreibt. "Na, so irgendwie, was das Eichhörnchen frisst, und so." Ich frage weiter, warum sie denn auf das Eichhörnchen gekommen sei. "Ja... also... manchmal, wenn ich aus dem Fenster kucke, aber wirklich nur manchmal... dann kommt da vorne ein Eichhörnchen raus, und das hüpft rum und... Dann würde ich am liebsten rauslaufen und mit dem Eichhörnchen spielen." - "Willst du denn das nicht lieber aufschreiben?" - "Aber wir haben jetzt doch 'Projekt Tiere', und da sollte sich jeder ein Tier aussuchen, und die Lehrerin hat alles so Bücher mitgebracht..." Ich überrede Nadire, das aufzuschreiben, was ihr beim Eichhörnchen wichtig ist. Es dauert lange, bis sie ihre eigenen Überlegungen in zwei Sätze gepackt hat, ich muss viel helfen, aber schließlich sind wir fertig. Am Ende der Stunde erzähle ich der Lehrerin von unserer gemeinsamen Arbeit. Sie fällt aus allen Wolken... "Aber unser Ziel ist doch, die Kinder so schnell wie möglich zu selbständigen Lernern zu machen, und dazu gehört doch auch, dass sie Informationen aus Büchern entnehmen können, - wie die Erwachsenen!"

Diese Szene liegt bereits einige Jahre zurück. Alternative Unterrichtsformen sind in der Regelschule inzwischen viel weiter verbreitet, Lernecken und Wochenpläne keine Fremdwörter mehr. Am Verhältnis der "offen" unterrichtenden LehrerInnen zu ihren Lerngegenständen hat sich jedoch wenig geändert.

Vor kurzem traf ich einen Freund, der seit seinem Studium keinen Zweifel daran gelassen hat, dass er niemals "frontal" unterrichten würde. Nun hat er seine erste eigene Klasse. "Also weißt Du, 'n bisschen Schiss hab' ich ja, zum ersten Mal ein richtig großes Projekt mit den Kindern", erzählt er, "Ich hab an 'Tiere' gedacht, das zieht ja immer, aber es gibt so wenig Bücher, die auf dem Niveau der Kinder sind!" - "Wie willst Du's denn angehen?" - "Na, ich dachte, erst schreiben wir auf, was wir alles über 'Tiere' wissen wollen, dann sucht sich jedes Kind eine Frage zum Beantworten aus, dann können alle in den Büchern wühlen... Und außerdem gehen wir in den Zoo, und dafür bereiten die Kinder natürlich auch Fragen vor. Oder vielleicht sollte sich lieber jedes Kind ein Tier aussuchen und darüber arbeiten?" - "Haben die Kinder denn schon Erfahrungen mit konkreten Tieren und wollen deshalb mehr wissen?" - "???" - "Und wenn die Kinder nun rausfinden wollen, wie schnell ein Löwe rennen kann, und der Löwe im Zoo schläft gerade?" - "Dann müssen sie im Buch nachgucken." - "Und warum gehen sie dann in den Zoo?"

Was macht es so schwer, Lernen als eine reale und produktive Auseinandersetzung mit der wirklichen Welt zu begreifen? Warum sind die Schulbücher immer zuerst da, während die Wirklichkeit zur Illustration verkommt? Steckt da die Angst dahinter, dass die Kinder, wenn sie eigenen Fragen nachgehen, nicht lernen, was das Schulbuch weiß, und deshalb im späteren Leben versagen? Dass Offener Unterricht mehr ist als die selbständige Bearbeitung von Schulstoff in einem wohnlich eingerichteten Klassenzimmer, begriff ich selbst erst an einer Erzählung aus Afrika.

Ameisenlöwen sind in vielen Gebieten Afrikas vertraute Insekten. Sie zum Unterrichtsgegenstand zu machen, löst in der Regel bei den Kindern eine Flut von Fragen aus, - wo Ameisenlöwen am liebsten leben, was sie nachts tun, was sie fressen, wie viele Kinder sie kriegen, ... Manche Kinder können schon Beobachtungen und Vermutungen beisteuern, andere weniger. Der Lehrer steht als Quelle für Antworten zunächst im Mittelpunkt, aber er sagt rätselhafterweise: "Wenn ihr das wissen wollt, dann müsst ihr die Ameisenlöwen schon selber fragen". - "Aber die können doch gar nicht sprechen". - "Na, vielleicht könnt ihr sie dazu bringen, dass sie sich mit euch unterhalten. Sie geben euch übrigens immer Antwort." - Die Kinder begreifen allmählich: wenn sie wissen wollen, was Ameisenlöwen fressen, müssen sie ihnen verschiedene Dinge anbieten und beobachten, was verschwindet und was übrigbleibt. Wenn sie wissen wollen, wo Ameisenlöwen leben, müssen sie sie in ihrer natürlichen Umgebung zu finden versuchen... Und die Ameisenlöwen machen auch wirklich nichts falsch: was sie nicht fressen, bleibt übrig, wenn ihnen ein Lebensraum nicht behagt, ziehen sie an einen besseren Platz.

Wenn ich diese Geschichte weitererzähle, zündet sie bei vielen in ihrer Einfachheit und Plausibilität. Das Aha-Erlebnis hat jedoch noch keinen veränderten Unterricht zur Folge. Was steht dem entgegen? Hierzu eine letzte Geschichte aus der Schule:

Ich besuche wieder eine zweite Klasse - diesmal geht es offensichtlich um Pflanzen, denn mir kommen Kinder entgegen, die konzentriert in Blumentöpfe blicken und diese durch die Gegend tragen. "Willst du mal sehen? Da sind Bohnen drin." Ich höre einem Gespräch zwischen zwei Kindern zu: "Wenn du deine Bohne einpflanzt, stell' sie auf jeden Fall in den Schrank! Dann wächst sie schneller!" - "Ja, warum denn?" - "Weiß nicht, ist aber auf jeden Fall richtig. Die Bohnen, die die Kinder auf der Fensterbank wachsen lassen, sind noch viel kleiner. Und draußen im Garten ist noch gar nichts zu sehen. Also pflanz' sie auf keinen Fall in den Garten!!!" - Ich bin von diesen Überlegungen völlig fasziniert - endlich passiert bei einem Arbeitsvorhaben etwas, was nicht ins Lehrbuch passt, dafür umso mehr ins wirkliche Leben. Die Lehrerin zuckt allerdings hilflos die Schultern: "Aber das ist doch falsch! Das kann ich doch nicht so stehen lassen! Und ausgerechnet bei Jochen, der sowieso schon hinterher hinkt!" Es mag sein, dass Jochen sich bei seinen ersten Beobachtungen in Bezug auf das Lernziel der Lehrerin irrt, die den Kindern beibringen möchte, was im Buch steht: dass Pflanzen ohne Licht nicht leben können. Die Bohne jedoch irrt sich nicht, sie verhält sich nur komplexer: Im dunklen Schrank wachsen die Bohnen anfangs schneller heran. Dies hat Jochen richtig beobachtet. Da er noch keine Erfahrungen mit dem Keimen von Samen und den Wachstumsbedingungen von Pflanzen hat, sind seine Schlussfolgerungen allerdings falsch. Was "richtig" ist, lernt er am besten, wenn er der Bohne weiter zusieht: Im dunklen Schrank werden die Bohnen im Laufe der Zeit immer größer, dünner und fahler, schließlich fallen sie um und sind nicht mehr zum Leben zu erwecken. Die Bohnen auf der Fensterbank und im Garten werden gleichzeitig immer kräftiger... Die Bohne selbst bringt den Kindern bei, dass sie ohne Licht nicht wachsen kann.

An der Auseinandersetzung mit diesem Stückchen Offenen Unterrichts wurden mir einige der Gründe klar, die das Einlassen auf entdeckendes Lernen weiterhin schwer machen, obwohl doch die Ausgangsbedingungen viel besser als im traditionellen Unterricht sind: Auch im Offenen Unterricht sollen die Kinder möglichst "effektiv" lernen. Aus der Beobachtung realer, alltäglicher Gegebenheiten wird aber nicht sofort das zu erreichende Lernziel deutlich - es gibt Beobachtungen, die scheinbar in die Irre führen und "falsche" Handlungen und Ratschläge nach sich ziehen. Wer das um jeden Preis vermeiden möchte, vielleicht, um den Kindern Frustrationen zu ersparen, vergibt sich auch eine Chance. Falsche Ratschläge haben im Leben reale Konsequenzen, aus denen man lernen kann, ohne dass Zensuren nötig sind: Jochen, der den Rat erteilt hat, die Bohnen im Schrank wachsen zu lassen, wird von den anderen schon zur Rechenschaft gezogen werden, wenn die Pflanzen erst einmal eingegangen ist. Und er selbst wird auch nie wieder eine Bohne im Schrank wachsen lassen... Hier verbirgt sich allerdings eine weitere Fußangel des entdeckenden Lernens: Wenn die Lehrerin selbst nicht genügend über das komplexe Verhalten von Pflanzen weiß, wird sie die Kinder danach beurteilen, ob sie das "sehen", was - meist sehr vereinfacht - im Schulbuch steht. Reale Beobachtungen, die dazu nicht passen, werden als "falsch" zurückgewiesen. Für ein Kind, besonders für ein schulisch nicht besonders erfolgreiches, gehört viel Kraft dazu, eine so widersprüchliche Situation auszuhalten. Wenn es dem Kind gelingt, zu seinen Beobachtungen zu stehen, hat es ein Stück innerer Unabhängigkeit gewonnen. Wenn es der Lehrerin gelingt, die verwirrenden Beobachtungen und Fragen der Kinder ernst zu nehmen und mit ihnen gemeinsam weiter zu fragen, wenn sie sich dabei vom handlich aufbereiteten Schulstoff wegwagt, trägt sie dazu bei, die Welt begreifbarer und die Kinder in ihr handlungsfähiger zu machen.Sie muss dazu allerdings von einer verbreiteten Illusion über Offenen Unterricht Abschied nehmen: dass er dann am besten sei, wenn die Kinder die Lehrer nicht mehr brauchen.

Entdeckendes Lernen ist mancher Hinsicht verwirrend: Wann Begreifen eintritt, lässt sich nicht voraussagen, und die Verhaltensweisen beim Entdecken entsprechen so gar nicht dem, was man unter einer "vernünftigen Arbeitshaltung" versteht: Entdecker starren häufig Löcher in die Luft oder laufen ziellos in der Gegend umher, weil sie einen bestimmten Gedanken noch nicht fassen können. Entdecker machen Unordnung, weil sie Materialien kennen lernen und Arbeitstechniken ausprobieren müssen, bis sie auf ihr Ziel lossteuern können. Entdecker mögen nicht immer über das reden, was sie untersuchen, weil sie ihre Ideen nicht zu jedem Zeitpunkt sinnvoll strukturieren können. All das verbindet man nicht mit Schule.

Entdeckendes Lernen "kostet Zeit". Diese scheinbare Zeitverschwendung, die Aussicht, statt der geforderten neunzehn Themen des Rahmenplans vielleicht nur vier oder fünf Bereiche gründlich behandeln zu können, lässt viele Lehrerinnen verzagen, bevor sie angefangen haben. Die Kinder sollen doch nicht hinterher hinken oder weniger lernen, als die anderen... Es lässt sich nicht ableugnen: Reale Begebenheiten lassen sich schwer auf eine Schulstunde zusammenziehen. Die Bohne braucht für ihren "Unterricht" einige Wochen, und in dieser Zeit muss man sie regelmäßig beobachten. Wichtige Ereignisse im Leben der Bohne lassen sich nicht auf die Schulstunde genau vorher bestimmen, sondern müssen erkannt werden, wenn sie sich ereignen. Nimmt man die Bohne ernst, muss vielleicht die Mathe-Arbeit um einen Tag verschoben werden. Und außerdem brauchen die Kinder Zeit, immer wieder auf eine Beobachtung oder Frage zurückzukommen, frühere Überlegungen im Licht neuer Erkenntnisse zu prüfen, Experimente in verbesserter Form zu wiederholen...

Will man die Vorteile, die Offener Unterricht und Entdeckendes Lernen für das Lernen von Kindern bieten, wirklich nutzen, muss sich die Erkenntnis durchsetzen, dass erfolgreiches Lernen nicht unbedingt etwas mit der Menge des gespeicherten Wissens pro Zeiteinheit zu tun hat, und Leistung nichts mit der perfekten Wiedergabe des gespeicherten Wissens. Was Lernen und Leistung im Offenen Unterricht sind - denn darauf wird nicht verzichtet - kann man jedoch erst erfahren, wenn man sich über längere Zeit auf dieses Wagnis einlässt. Risiken geht man am ehesten ein, wenn man keine Angst haben muss, plötzlich alle Sicherheiten zu verlieren. Deshalb möchte ich abschließend die unbestreitbaren Vorteile des entdeckenden Lernens gegenüber der herkömmlichen Wissensvermittlung skizzieren:

Mich persönlich fasziniert am entdeckenden Lernen, dass es so unpädagogisch ist: jeder kann es überall und zu jeder Zeit tun. Und damit erfüllt sich schließlich doch der heimliche Lehrerwunsch - überflüssig zu werden.  

Literatur:  

African Primary Science Program: Ask the Ant Lion. Newton/Mass.: Educational Development Center o.J. (ca. 1966).

Duckworth, Eleanor: The African Primary Science Program. An Evaluation and Extended Thoughts. Grand Forks: North Dakota Study Group 1978.

Duckworth, Eleanor: The Having of Wonderful Ideas and Other Essays on Teaching and Learning. - New York/London: Teachers College Press 1987. - deutsche Übersetzung -

Ernst, Karin: Was ist Entdeckendes Lernen? - In: Fragen und Versuche Nr. 42, Dez. 1987, S. 63-72.

Hawkins, David: "Messing about" in Science. - In: The ESS-Reader. Hrsg. v. Elementary Science Study of Educational Development Center. - Newton/Mass. 1970.

Morrison, Philip and Phylis: Primary Science - Symbol or Substance? - New York: City College Workshop Center 1984.