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Jos Elstgeest
Originaltext:
Jos Elstgeest, Teaching Science by Posing Problems. In: Prospects, Vol. VIII,
No. 1, 1978, S. 66-72.
Aus dem Englischen von Karin Ernst.
© für die Übersetzung: Karin Ernst 1999, 2001.
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Beispiel 1
Das erste Unterrichtsbeispiel führt uns in eine Klasse, in der traditionell unterrichtet wird. Der Lehrer schreibt das Thema der Stunde an die Tafel Samen. Dazu zeichnet er ein untadeliges Diagramm mit dem Titel Die Bohne. Die Bohne entfaltet sich darin, um ihren inneren Aufbau zu enthüllen, die zusammen mit den äußeren Teilen die 'internen und externen Charakteristika der Bohne bilden, die vom Lehrer sorgfältig als solche gekennzeichnet werden.
Kein einziges Detail wird übersehen. Linien verbinden die Teile mit den korrekten Bezeichnungen: Testa, Cotyledon, Plumule und Radix. Wie jedes Mal findet es der Lehrer schwierig, das Mikropyl zu zeichnen, aber eine passende Linie zeigt auf seine Position direkt unter dem Hylum. Die Funktion der einzelnen Teile wird vom Lehrer detailliert erläutert. Auch die falsche Annahme, daß das Mikropyl dazu da sei, Wasser in den Samen zu leiten, wird nicht ausgespart.
Während der Lehrer den Unterrichtsstoff darstellt, schreibt er gleichzeitig eine übersichtliche Zusammenfassung an die Tafel. Der griechische Sprachunterricht, aus dem die Stunde im wesentliche bestanden hat, wird dadurch abgeschlossen, daß die Schüler die Zusammenfassung und das Diagramm in ihre Hefte übertragen.
In den wöchentlichen, monatlichen oder jährlichen Tests können die Kinder nun Fragen wie diese beantworten: Nenne die internen und externen Charakteristika der Bohne., Welche Funktion hat das Mikropyl?, Wo sitzt die Radix? oder Welche Funktion haben die Testae?
Die Absicht dieser Unterrichtsstunde war es, lehrplangemäß über den Samen und seine Teile zu unterrichten.
Die Wirkung dieser Unterrichtsstunde können wir wie folgt analysieren: Die Kinder, die mehr daran gewöhnt sind, Bohnen zu essen, als sie nackt und vergrößert auf der Tafel zu betrachten, entwickeln nicht gerade ein überwältigendes Interesse für diesen Unterrichtsstoff. Sie werden versuchen, die schwierigen Wörter zu lernen und die Fragen, die in der Prüfung auf sie zukommen, zu beantworten. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden sie jedoch schnell und komplett vergessen, was sie in dieser Stunde gelernt haben. Sie werden auch in Zukunft ihre Bohnen mit Genuß oder Abneigung essen, nicht wegen des Plumule, sondern weil ihre Mutter sie mehr oder weniger lecker gekocht hat. Praktisch ist der Effekt dieser Unterrichtsstunde gleich Null.
Beispiel 2
Dieses Mal beobachten wir einen Lehrer, der seinen Unterricht an die Erfordernisse der heutigen Zeit angepaßt hat. Psychologen und eine Reihe von Erziehungswissenschaftlern haben schon vor langer Zeit darauf hingewiesen, daß der Tafel-und-Kreide-Methode, die wir in Beispiel 1 beschrieben haben, nicht gerade durchdringender Erfolg dabei beschieden ist, die Kinder mit den Tatsachen des Lebens vertraut zu machen. Auf ihren Überlegungen baut der handlungsorientierte Unterricht auf, der durchaus einige Vorteile hat.
Auch jetzt ist das Thema der Stunde Samen.
Der Lehrer hat über Nacht eine Handvoll Bohnen in einem Glas Wasser eingeweicht, um sie aufquellen zu lassen. Jedes Kind bekommt nun ein oder zwei eingeweichte glitschige Bohnen, eine Stecknadel und eine Handlupe. Die Zeichnung auf der Tafel wächst in dieser Stunde nach und nach, während die Kinder ihre Bohnen mit den Nadeln aufpolken. Der Lehrer hilft ihnen, die tatsächlichen Testa, Hylum, Cotyledon, Plumule und Radix zu erkennen, und die Kinder vergleichen die Teile, die sie finden, mit der sich entwickelnden Zeichnung auf der Tafel. Sie sehen die Sache im Original. Natürlich entzieht sich das Mikropyl, trotz der Lupe, wieder einmal der Entdeckung, aber wenn man die matschige Bohne etwas drückt, enthüllt sich seine Anwesenheit, und mit ein wenig Phantasie können es einige Kinder unter der Lupe auch sehen.
Der mitlaufende Kommentar des Lehrers beschreibt die Funktion der einzelnen Teile, und unter der Zeichnung auf der Tafel wächst die Zusammenfassung heran. Auch hier werden die Fakten von den Kindern in ihre Hefte geschrieben, aber der Lehrer besteht darauf, daß sie die Bohne so zeichnen, wie sie sie selbst untersucht haben.
In dieser Unterrichtsstunde sind die Kinder viel mehr beteiligt als in Beispiel 1. Deshalb überrascht es niemanden, daß sie sich an die Teile der Bohne und sogar ihre griechischen Namen anschließend besser erinnern. Vielleicht erklären sie sie sogar ihren Eltern, wenn sie das nächste Mal Bohnen essen.
Auch diese Unterrichtsstunde hatte das Ziel, über den Samen und seine Teile zu unterrichten.
Die Kinder finden an einem solchen Unterricht sicher mehr Gefallen, als an der altertümlichen Tafel-und-Kreide-Methode. Möglicherweise schneiden sie in einem Test besser ab, weil sie über die Bohne umfassender informiert worden sind. Ob sie aber eine tiefere Einsicht in die Struktur und Arbeitsweise von Samen bekommen haben, bleibt abzuwarten. Dieser Unterricht ist vom problemorientierten Lernen immer noch Lichtjahre entfernt. Irgendwie ist er immer noch in den Testae der Bohne gefangen und läßt die fragende und suchende Offenheit des folgenden Beispiels vermissen.
Beispiel 3
Der Lehrer, der hier den Unterricht leitet, schreibt zu Beginn nichts an die Tafel, einfach weil es noch nichts zu schreiben gibt. Ihm ist klar geworden, daß eine Unterrichtsstunde allein nicht ausreichen wird, um die Kinder umfassend mit Samen vertraut zu machen, und er ist sich auch überhaupt noch nicht sicher, wohin genau die geplanten Aktivitäten führen werden. Er hat zwar einen Plan, aber viel wird davon abhängen, wie die Kinder darauf reagieren und welche Interessen sie entwickeln werden. Das einzige, was er sicher weiß, ist, daß die Kinder, wenn sie etwas über Samen lernen sollen, dazu auch Samen brauchen. Nicht Bohnen, sondern Samen. Nicht einen Samen, sondern viele. Nicht ein, zwei Sorten Samen, sondern viele Sorten. Nicht eine Handvoll Samen, sondern Berge davon. Deshalb ist das erste Problem, das sich der Klasse stellt: Wie und woher bekommen wir Samen? Und schon sind sie aus der Klasse heraus auf der Suche nach Samen, nicht in den Kaufmannsladen, sondern auf die Felder, in den Busch, an die Hecken und Gassen, in die Wiesen und ins Gehölz, in den Wald und auf die Weiden.
Als die Kinder zurückkommen, haben sie einen Berg von Samen, Früchten und Schoten mitgebracht, dazu eine Fülle von Fragen und Problemen. Das wichtigste ist zunächst, Ordnung in das ganze Durcheinander zu bringen. Früchte, Schoten und Samen werden zunächst nach Eigenschaften geordnet, die die Kinder erkennen können und wichtig finden. Die Schulglocke, die viel zu früh klingelt, bewirkt beinahe, daß die schöne Ordnung wieder flöten geht, als die Kinder ihre Schätze zusammen sammeln, um sie für die nächste Sachkunde-Stunde aufzuheben. Es läßt sich wahrhaftig nicht vorhersagen, was als nächstes passieren wird, denn der Unterricht kann sich nun in verschiedenen Richtungen weiterentwickeln.
Je komplexer das gesammelte Material ist, desto unterschiedlicher werden die Probleme, die sich stellen und die Aktivitäten, die daraus folgen.
Die Möglichkeiten sind fast unbegrenzt. Vielleicht wird es zu einer spannenden Herausforderung, sich einen Weg auszudenken, wie man auf verläßliche Weise die Zahl der Samen eines ganzen Baumes schätzen kann. Oder es kommt die Frage auf, ob auch alle Samen keimfähig sind. Die Entwicklung vom Samen bis hin zur neuen Frucht kann skizziert werden, weil manche Pflanzen Früchte in unterschiedlichen Wachstumsstadien enthalten. Viele Kinder möchten gerne wissen, wohin, wie weit und auf welche Weise die Samen weiterwandern. Das Innere der verschiedenen Samen wird natürlich immer wieder untersucht, und die Kinder übersetzen die griechischen Wörter für sich ganz einfach in zwei Hälften, eine winzige Pflanze und Haut.
Irgendwann kommt der Zeitpunkt, von dem an sich alle damit beschäftigen, aus den Samen Pflanzen heranzuziehen. Sture Samen ignorieren dabei oft die drei Bedingungen für ihre Keimung, die in den Schulbüchern stehen, denn die Samen sind ziemlich unwissend und schreiben keine Klassenarbeiten. Für die Kinder sind die Samen schlicht eine Herausforderung: wie bringt man sie dazu, zu keimen?
Es entstehen viele weitere Probleme. Zahlreiche Was passiert, wenn..-Fragen werden ausgetestet, und die Kinder sind beschäftigt, laut, aufgeregt und ohne Kenntnis griechischer Wörter. Aber schon bald halten sie sich für Samenexperten, und das mit gutem Grund. Sie haben Samen gesehen und untersucht. Sie haben Samen auf Papier, Ziegeln, Kieseln, Baumwolle, Schwämmen und in der Erde zum Wachsen gebracht. Sie haben Pflanzen aus halben und viertel Samen herangezogen. Sie haben festgestellt, daß die winzige Pflanze im Samen zuerst wächst, und daß die zwei Hälften das Wachstum unterstützen. Sie haben harte, sture Samen zum Keimen gebracht, indem sie sie mit einer Feile aufgerauht, oder gekocht, oder geknackt haben oder dadurch, daß sie einfach geduldig abgewartet haben.
Die schwierige Frage nach dem Warum? wurde in kleinere Fragen der Art Laßt uns sehen, wie... aufgebrochen. Es wurde den Kindern deutlich, daß Genauigkeit, Ausdauer und Geduld zu den wichtigsten Tugenden junger Naturwissenschaftler gehören. Sie haben gelernt, mit ihren Vorhersagen vorsichtiger zu sein, wenn sie Wege gefunden haben, sie zu überprüfen. Sie haben sich gegenseitig in Diskussionen mit ihren Fragen gequält, und sie haben Ideen und Informationen in Hülle und Fülle ausgetauscht. Um befriedigendere Lösungen für ihre Probleme zu finden, haben sie bessere Untersuchungsmethoden entwickelt. Während des Prozesses fiel ihnen allmählich auf, daß die Samen für sie Antworten bereit halten, aber nur, wenn sie auch auf die richtige Weise gefragt werden. Weil sie Lösungen für ihre Probleme gefunden und auf ihre eigene Weise gelernt haben, haben die Kinder an Selbstvertrauen gewonnen.
Der Erfolg eines solchen Unterrichts wird nicht durch ein wöchentliches, monatliches oder jährliches Examen abgeprüft, das Kinder und Lehrer gleichermaßen fürchten. Der Prozeß der Überprüfung ist zu einer kontinuierlichen Erfahrung geworden, in dem Fragen gestellt werden und nach Antworten gesucht wird. Intellektueller Fortschritt wird am besten durch die Arbeiten der Kinder dokumentiert und dadurch, daß sie naturwissenschaftliche Vorgehensweisen immer besser anwenden können.
Der Sinn dieses Unterrichts ist nicht mehr, über den Samen und seine Teile zu unterrichten. Die Absicht ist vielmehr, Kinder dazu zu ermutigen, selbst Probleme aufzuwerfen und zu lösen, sich dabei mit Samen zu beschäftigen, und alle ihre wissenschaftlichen Fähigkeiten dabei anzuwenden und weiterzuentwickeln. Die Samen sind zu nützlichen Werkzeugen für naturwissenschaftliches Vorgehen geworden sie sind die Lehrer geworden, die Kinder die Vortragenden und Zeigenden, und der Lehrer der zuhörende Berater.
Natürlich haben die Kinder hierbei auch viel über Samen gelernt. Mehr als die Kinder, die das Mikropyl gekennzeichnet haben.
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