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Entdeckendes Lernen e.V.

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Bruce Watson und Richard Kopnicek

Unterricht für und durch 'conceptual change':
Auseinandersetzung mit kindlichen Konzepten in Lernprozessen

In: Phi Delta Kappan, Mai 1990, Seite 680 - 684.
Original-Artikel: http://www.exploratorium.edu/IFI/resources/workshops/teachingforconcept.html
Veröffentlicht in:
"Sb/pinnendifferenzierung in Berlin", Heft 43/1998,
und in A. Bolland (Hrsg.): Lernwege zum Thema Balance. Dokumentation der 10. bundesweiten Fachtagung der Lernwerkstätten 1997. Bremen 1998, S. 150 - 157. Aus dem Amerikanischen von Ute Zocher.
© für die Übersetzung: Ute Zocher 1998, 2001


Wie es zur Forschung über die Veränderungen von Denkkonzepten kam
Die Untersuchung kommt in die heiße Phase
Der Schlaf der Vernunft
Es zum Guten wenden
Naheliegende Schlussfolgerungen
SchülerInnen auf dem 'heißen Stuhl'
Anmerkungen und Literaturangaben

Neun Winter lang war die Erfahrung nun schon Lehrmeisterin der Kinder. Jede Mütze, die sie getragen, jeder Pullover, den sie angezogen hatten, "enthielt" Wärme: "Zieh Deine warmen Sachen an", hatten Lehrer und Eltern ihnen immer wieder gesagt. Wer will ihnen also verübeln, was sie dachten, als sie eines schönen Frühlingstages begannen, das Thema 'Wärme' in der Schule zu bearbeiten?

"Pullover sind warm", sagte Katie.

"Wenn du ein Thermometer in eine Mütze stecken würdest, würde es auf jeden Fall heiß werden! 90 Grad vielleicht", sagte Neil.

"Wenn du es da längere Zeit drinlässt, dann steigt's vielleicht auch auf 100 Grad. Oder 200", ergänzte Christian.

Wenn Deb O'Brien ihren Unterricht über 'Wärme' wie gewöhnlich begonnen hätte, dann hätte sie wahrscheinlich nie erfahren, wie sehr neun lange Winter in Massachusetts das Denken der Kinder geprägt haben. Ihre Viertklässler hätten die wichtigsten Wärmequellen kennengelernt, etwas über Reibung erfahren und gezeigt bekommen, wie man ein Thermometer abliest. Nach zwei Wochen wären sie in der Lage gewesen, einen simplen Test über das Thema 'Wärme' zu bestehen. Aber ihre Vorstellungen, ihre bereits vorhandenen Konzepte, die nie zur Sprache gekommen wären, wären weiterhin da und würden in einem Dickicht sich widersprechender Ideen über Wärme und deren Eigenschaften weiterleben.

Wie auch immer, Deb O'Brien unterrichtet periodisch, wie eine wachsende Anzahl LehrerInnen aller Klassenstufen, "science for conceptual change", was so viel wie sachkundlichen Unterricht zur Veränderung bereits bestehender Denkkonzepte meint. ('Primary science' wird hier gleichgesetzt mit dem Sachunterricht in der Grundschule). Ihren SchülerInnen wird dabei erlaubt, ihre eigenen Erfahrungen in den Mittelpunkt des Lernens zu stellen und sich mit den Inkonsistenzen ihrer Theorien aktiv auseinanderzusetzen. In diesem Prozess finden sie den Weg zu einem tieferen Verständnis von Wärme, haben viel Spaß dabei und verfeinern ihre Denk- und Schreibfähigkeiten.

Die Lehrerin begann mit der einfachen Frage: "Was ist Wärme?" Die Kinder benutzten ihre Hefte und die Tafel, um all die Ideen festzuhalten, die sie mit Deb O'Brien's Hilfe als ihr "best thinking so far" zum Thema 'Wärme' niederschrieben. "Wärme kommt von der Sonne", schrieben sie. "Und von unseren Körpern." Aber als Owen über die Wärme in Pullovern sprach, stimmten ihm alle anderen zu. Auch Mützen sind warm. Sogar Wolldecken werden "verdammt warm", behaupteten die Kinder. Nachdem Deb O'Brien hinter den Sinn dieser ersten naiven Vorstellungen gekommen war, stoppte sie die Kinder und sprach die magischen Worte in der Wissenschaft: "Lasst es uns herausfinden!"

Zwei volle Tage lang wurde experimentiert. Die Kinder mussten sich mit ihrer Erfahrung, der trügerischsten aller Lehrmeisterinnen, direkt auseinandersetzen. Mit Hilfe ihrer Lehrerin haben Christian, Katie, Neil und die anderen Thermometer in Pullover, Mützen und aufgerollte Wolldecken gesteckt. Als sich die Temperatur im Inneren auch nach 15 Minuten weigerte anzusteigen, schlug Christian vor, das Thermometer über Nacht darin zu lassen. "Naja", sagte er, "wenn der Doktor bei dir Fieber misst, dann musst du das Thermometer auch immer für lange Zeit im Mund behalten". Die Pullover und Mützen wurden sorgfältig zusammengelegt. Die Kinder sagten für den nächsten Tag voraus, dass die Temperatur auf über 100° Fahrenheit steigen würde.

Am nächsten Morgen rannten sie als erstes zu ihren Experimenten. Die Kinder waren verblüfft: All ihre Voraussagen waren falsch. Nun werden sie ihre Meinung ändern, dachte Deb O'Brien, und wir können weitermachen. Aber Erfahrung ist eine wirksame - wenn auch fehlbare - Lehrerin. Die Kinder dachten nicht daran aufzugeben. "Wir haben sie einfach nicht lang genug drin gelassen", sagte Christian. "Kalte Luft ist da irgendwie rein gekommen", sagte Katie. Und so ging das Ausprobieren weiter.

Wie es zur Forschung über die Veränderungen von Denkkonzepten kam nach oben

Seit den späten 70er Jahren ist der Begriff "conceptual change" (die Veränderung von Denkkonzepten) zum Spielball naturwissenschaftlich orientierter Pädagogen geworden. Sie argumentieren, dass Lektüre und Demonstrationsversuche allein nicht den Berg alternativer Denkrahmen, den Kinder mit in die Schule bringen, bewegen können. Sogar praktische Versuche nach Anleitung tragen nicht dazu bei, solches Denken aufzudecken. Deshalb beginnen Lehrerinnen und Lehrer damit, den Kindern von Anfang an dabei zu helfen, ihre eigenen Modelle naturwissenschaftlicher Prinzipien zu konstruieren.

Wenn Kinder ihr Denken auf dem aufbauen, was sie gesehen und gefühlt haben, dann muss ihre Erfahrung strukturiert werden, um falsche Annahmen in Frage zu stellen. Wenn alternative Sichtweisen auf naturwissenschaftliche Prinzipien nicht direkt angesprochen werden, können sie neben dem weiter existieren, "was der Lehrer uns gesagt hat", und ergeben einen Mischmasch aus Fakten und Fiktionen. Wenn man sich z.B. mit dem Fach Astronomie beschäftigt und jemand die üblichen Vorstellungen aus der Astrologie mit einbringt, können Kinder alle verfügbaren Fakten über die Planeten lernen und immer noch denken, dass die Venus irgendwie ihr Schicksal bestimme. Wenn aber jedem Kind die Gelegenheit geboten wird, sein oder ihr eigenes Modell vom Universum zu testen und dessen Grenzen zu finden, dann kann daraus ein tieferes Verständnis - ohne die naiven Konzepte - erwachsen.

Bereits in den 20er Jahren betonte John Dewey, dass naturwissenschaftliches Denken einer Entdeckungs- und Forschungsreise gleichkomme, und Gerald Craig sprach sich in seiner bahnbrechenden Dissertation zugunsten eines naturwissenschaftlichen Unterrichts aus, der als Untersuchung angelegt sei (1). Aber die Texte und Curricula der 50er Jahre erzählen eine andere Geschichte. Naturwissenschaftliche Texte waren Lesebücher, durchsetzt von vorverdauten Demonstrationsversuchen zu verschiedenen Fakten und Phänomen - inklusive solcher offensichtlicher Fragen wie: "Hat Luft Gewicht?"

Als Sputnik I aus dem Orbit zur Erde signalisierte, dass das amerikanische Raumfahrtprogramm nur das zweitbeste war, begann das goldene Zeitalter der naturwissenschaftlichen Bildung. Millionen von Dollars wurden für die Entwicklung und Einführung neuer naturwissenschaftlicher Curricula verfügbar gemacht. Der National Defense Education Act (NDEA) von 1958 stellte entsprechende Mittel zur Verfügung, um die Schulen mit Materialien und Geräten auszustatten. Wahrscheinlich war jedoch besonders bedeutungsvoll, dass das neue Verständnis von Naturwissenschaften allen Naturwissenschaftlern, Psychologen und Pädagogen die Möglichkeit gab, ihre Bemühungen auf eine einzige Anstrengung zu konzentrieren: die naturwissenschaftliche und mathematische Ausbildung aller Kinder zu verbessern.

Indem sie sich auf die Forschung von Psychologen wie Jerome Bruner, Robert Gagné und Jean Piaget (2) beriefen, holten sie ein, was Dewey, Craig und andere bereits 1920 gesagt hatten: Naturwissenschaften sind ein entdeckungsorientierter (inquiry-oriented) Lerngegenstand, der entsprechend den Strukturen der Disziplin gelehrt und auch gelernt werden sollte. Die Kinder selbst und die Frage, wie sie lernen, sollten im Mittelpunkt des Lehrens eines jeden Faches stehen.

Seit den frühen 60er Jahren haben naturwissenschaftlich orientierte Pädagogen versucht, diese Ziele auch durch finanzielle Hochs und Tiefs zu verfolgen. Die Mehrheit der Programme - seit 1960: Science a Process Approach (SAPA), Science Curriculum Improvement Study (SCIS), Minnesota Mathematics and Science Teaching Project (MINNEMAST), Elementary Science Study (ESS); aus den 70er Jahren: Conceptually Oriented Program in Elementary Science (COPES), Science 5/13, Nuffield; und aus den 80ern: Great Explorations in Math and Science (GEMS), TOPS, Activities in integrated Math and Science (AIMS) - sie alle unterschreiben jene Grundprinzipien, die oben bereits erläutert worden sind: Kinder stehen im Zentrum des Lerngeschehens, und Naturwissenschaft wird als Kombination von Inhalten, Prozessen, Fähigkeiten, Haltungen und Werten gesehen.

Diese ausformulierten Programme, die später von kommerziellen Firmen veröffentlicht worden sind, hinterließen einen nur bescheidenen Eindruck auf dem Markt. Ihre Ideen und Aktivitäten wurden in kommerziellen Büchern wie Space, Time, Energy and Matter (STEM) zusammengefasst. Aber selbst dieses Material erzeugte nur eine kleine Welle im Ozean der Schulwissenschaft. Und auch die letzte Generation der Textbücher bringt es nur zu Lippenbekenntnissen hinsichtlich der Naturwissenschaft als einer entdeckungsorientierten Disziplin. Diese Bücher ähneln ihren Vorgängern aus den 50er Jahren mehr, als denjenigen, die in der kurzen Phase des "Goldenen Zeitalters" produziert worden sind. Die heutigen Bücher, die den größten Einfluss darauf haben, wie in den amerikanischen Schulen Naturwissenschaften unterrichtet werden, und die Lehrer, die sich vor allem auf diese beziehen, sind kaum näher daran, den naturwissenschaftlichen Unterricht als einen Entdeckungsprozess zu verwirklichen, als ihre Vorgänger 1920. In zu vielen Klassenzimmern der USA werden Naturwissenschaften noch immer als eine festgefügte Einheit von Fakten gesehen, die absorbiert werden müssen. Die Kinder werden dabei als leere Schiefertafeln wahrgenommen, auf die die Lehrer schreiben können.

Aber in den letzten 20 Jahren haben Menschen wie David Ausubel, Joseph Novak, Rosalind Driver, John Clement uvm. begonnen, andere Fragen über das kindliche Lernen zu stellen (3). Kognitionspsychologen und Nachfolger Piagets stimmen darin überein, dass Wissen, sowohl das der Kinder als auch das der Erwachsenen, auf sehr interessante Weisen erworben wird und wächst. Lernende bringen ihre ideosynkratischen und persönlichen Erfahrungen in die meisten Lernsituationen mit hinein. Diese Erfahrungen haben eine ganz wesentliche Auswirkung auf die Weltsicht des Lernenden und einen verwirrenden Effekt auf ihre Bereitschaft und Fähigkeit, andere, wissenschaftlich fundiertere Erklärungen über das Funktionieren der Welt zu akzeptieren. Lehrer, die sich ein persönlich geprägtes Verständnis von Wissen zu eigen gemacht haben, sind als Konstruktivisten bekannt. Ihr Lernmodell stellt die These auf, dass alles Wissen in einem Schema von Akkomodation und Assimilation individuell konstruiert wird.

Deb O'Brien ist eine solche Lehrerin. Ihre SchülerInnen konstruieren aktiv ihr konzeptionelles Verstehen von Wärme und deren Eigenschaften und sind eifrig damit beschäftigt, überraschenden Daten immer mit noch einem neuen Experiment zu begegnen.

Die Untersuchung kommt in die heiße Phase nach oben

Als der Schock über die Raumtemperatur-Ergebnisse auf den eingepackten Thermometern nachgelassen hatte, versuchten es die Kinder erneut. Wenn, wie sie behaupteten, kalte Luft über Nacht in die Kleidungsstücke eingedrungen war, was könnten sie dann tun, um die Luft daran zu hindern?

Während Deb O'Brien es vorgezogen hätte, eine Variable nach der anderen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken, brachte die Diskussion der Kinder weitere Alltagskonzepte ans Tageslicht.

Ihnen kamen Dachgeschosswohnungen und Autos in den Sinn, und einige der SchülerInnen behaupteten, geschlossene Räume seien warm. "Wie könnt Ihr das testen?", fragte Frau O'Brien. Neil beschloss, seine Mütze mit einem Thermometer darin in eine Plastiktüte zu stecken. Katie entschied sich dafür, über die Enden der Decke Mützen zu stülpen. Andere legten Pullover in Schränke oder Schubladen, weit weg von der großen kalten Luftböe, von der sie anscheinend dachten, dass sie nachts durch ihr Klassenzimmer strömte. Als sie ihre neuen Versuchsanordnungen sorgsam arrangiert hatten, überließen sie es wieder der Zeit, ihre Arbeit zu tun - und Wärme zu produzieren.

Am Mittwoch morgen rannten die Kinder gleich zu ihren Experimenten, um nach ihnen zu sehen. Sie überprüften die tief vergrabenen Thermometer. Quer durch den Raum teilten sie einander ihre Verwirrung mit. Alle Thermometer waren auf 68 Grad Fahrenheit. Irritiert schrieben sie in ihre Hefte.

"Warm und kalt sind manchmal komisch", hielt Katie fest. "Vielleicht funktionierte das Thermometer nicht richtig, weil es an Raumtemperatur gewöhnt ist?"

Owen wusste nicht, was er schreiben sollte, und Christian notierte einfach: "Ich weiß nicht, warum."

Währenddessen führte Deb O'Brien ihr eigenes Tagebuch. Dies war einer ihrer ersten Versuche, durch conceptual change zu unterrichten, und sie fragte sich, wie lange sie sich noch mit den naiven Konzepten aufhalten sollte.

"Die Kinder halten an ihren Ideen fest und bringen Bruchstücke ihres Wissens über die Welt zusammen. Aber die Zeit, die wir uns nehmen, um zu erkunden, was die Kinder denken, ist viel länger, als wenn ich ihnen einfach die Fakten mitteilen würde." Sie wusste, wenn sie den SchülerInnen gesagt hätte, dass Hüte und Mützen keine Wärme erzeugen, hätten die meisten ihre Aussage nachgeplappert - nur ihr zu liebe. Ohne die Möglichkeit, dieses Faktum zu überprüfen, würden sie weiterhin ihr eigenes Konzept der Lehrerantwort vorziehen.

Überraschung erlebt der Lehrer, der erwartet, dass die Kinder bereits bei den ersten offensichtlichen Abweichungen ihre Konzepte und Theorien aufgeben. Sturheit, eine Eigenschaft nicht nur von Kindern, führt dazu, dass SchülerInnen jeden Strohhalm ergreifen, dachte sich Deb O'Brien. Wenn die Temperatur innerhalb eines Pullovers auch nur um ein Grad anstieg, freuten sich die Kinder und riefen: "Endlich!" Und wenn - was öfter der Fall war - das Thermometer auf Raumtemperatur blieb, dann, tja, dann war ja vielleicht das Thermometer kaputt. Oder die kalte Luft war irgendwie da hineingekommen. Oder vielleicht hatten sie den Pullover nicht lange genug liegengelassen. Christian wollte eine Mütze mit einem Thermometer in einer Metallbox verschließen und sie dort für ein ganzes Jahr liegen lassen. Dann würde die Temperatur sicherlich steigen.

Sollte sie ihnen den Unterschied zwischen 'Wärme bewahren' und 'Wärme ausstrahlen' erklären?, überlegte sich O'Brien. Sollte sie sich ein eigenes Experiment zum Thema Isolation ausdenken? Sie beschloss, das Experimentieren mit den Konzepten noch für eine weitere Testrunde zuzulassen. Und so wurden Pullover, Mützen und sogar ein Daunenschlafsack, der von zu Hause mitgebracht wurde, weiterhin verschlossen, zusammengesteckt und so zurückgelassen, dass sie sich der Kälte widersetzen konnten.

Der Schlaf der Vernunft nach oben

Obwohl wir oft annehmen, dass Vernunft das weisende Licht der Wissenschaft ist, zeigt uns die Geschichte wissenschaftlichen Denkens etwas anderes. Wenn Wissenschaftler mit gegensätzlichen Ergebnissen und Beweisen konfrontiert werden, sind sie häufig genauso ratlos wie Kinder. Durch weiteres Testen suchen sie nach zusätzlichen Beweisen. Wenn die Ergebnisse weiterhin dem widersprechen, was sie ursprünglich gedacht haben, verhalten sich Wissenschaftler oft so ähnlich wie Kinder: sie diskutieren miteinander, sie kleben an ihren alten Theorien fest, und sie bevorzugen es, sich Experimente auszudenken, die die traditionellen Denkweisen untermauern. Wie Thomas Kuhn in seinem Buch "Die Struktur der wissenschaftlichen Revolution" (4) gezeigt hat, sind Wissenschaftler durchaus in der Lage, an widersprüchlichen Theorien über wissenschaftliche Konzepte festzuhalten. Wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaften, so wie die Klasse von Deb O'Brien, können dies noch ein Stück weiterführen, indem sie sich in verschiedene Lager aufteilen, die gleichzeitig an mehrere verschiedene Erklärungen für ein und dasselbe Ereignis glauben - häufig für eine Zeitspanne von mehreren Jahren. Wenn es darum geht, den Irrtümern im eigenen Denken zu begegnen, sind Wissenschaftler aller Altersstufen für bestimmte Barrieren ähnlich empfänglich.

Theoretisch, wenigstens dann, wenn bewiesen ist, dass Widersprüche existieren, werden vernünftige Beobachter ihr Denken so verändern, dass es mit den neuesten Beobachtungen übereinstimmt. Eine Theorie, so der Wissenschaftsphilosoph Imre Lakatos, wird danach beurteilt, wie gut sie Probleme löst (5). Wenn eine Theorie Probleme erzeugt, die sie nicht lösen oder erklären kann, sagt Lakatos, wird sie zugunsten einer neuen Theorie aufgegeben, die diese Schwierigkeiten zu lösen vermag und weiterführende Untersuchungen eröffnet. Sogar Viertklässler suchen nach Antworten, die mit ihren Theorien erklärt werden können. Aber das Ersetzen einer Theorie durch eine andere ist nicht so einfach wie das Wischen einer Tafel. Es müssen bestimmte Vorbedingungen für den Wandel der Konzepte existieren, wenn die Barrieren auf dem Weg zum Verstehen überwunden werden sollen.

Wir möchten nun verschiedene dieser Barrieren im Zusammenhang mit dem Prozess der Konzeptveränderung aufzeigen - Hindernisse, die stark genug sind, um widersprechenden Ereignissen ins Gesicht zu lachen. Unter Schulkindern ist Sturheit wahrscheinlich das größte Hindernis, um zuzugeben, dass die eigene Theorie möglicherweise falsch war. Kinder, die nicht oft nach ihrer Meinung gefragt werden, haben eine besondere Abneigung dagegen, ihre Irrtümer einzusehen, und sie werden Wege finden, die alten Ideen anzugleichen, bevor sie die neuen annehmen.

Lakatos verweist auf die verschiedenen Stärken wissenschaftlicher Konzepte und begründet damit, warum einige Theorien sich verändern und andere nicht. 'Hard-core Ideen' übernehmen den Vorrang über 'protective-belt Ideen', behauptet Lakatos. Was ist damit gemeint? Angesichts sich widersprechender Beweise werden die Denker die 'protective-belt Ideen' verändern, um ihre 'hard-core Ideen' zu schützen, genauso wie Astronomen endlose Variationen von kosmischen Theorien ersannen und zum Beispiel Epizyklen mit wechselnden Abstände erfanden, nur um weiterhin die Erde im Zentrum ihres Universums denken zu können. Katie war gewillt einzusehen, dass "heiß und kalt manchmal komisch sind". Damit gab sie ihre Vorstellung der Gleichförmigkeit von Wärme auf, um eine Art Schutzwall um die Idee der 'warmen Kleidungsstücke' herumzubauen. Wenn Kinder nicht die Möglichkeit haben, auf ein Stück wissenschaftliche Erkenntnis zurückzugreifen, um widersprüchliche Tatsachen zu erklären, dann neigen sie oft dazu, das irritierende Ereignis als Zauberei zu betrachten. Wie viele Lehrer wissen, lässt der kindliche Aberglaube Wissenschaftler geradezu flexibel und offen erscheinen.

Ein anderes Hindernis auf dem Weg zur Veränderung von Konzepten ist die Sprache. Ein Lehrer, der sich um die Veränderung von Konzepten bemüht, sollte sehr bewusst mit Begrifflichkeiten und Vokabular umgehen. Die Schwierigkeit, zusätzlich zu den neuen Denkkonzepten neue Terminologien zu bewältigen, kann dazu führen, dass Kinder noch hartnäckiger an alten Denkweisen festhalten. Sogar der alltagssprachliche Gebrauch nichtwissenschaftlicher Ausdrücke, wie 'warme Kleidung', kann zu Verwirrungen führen. Da muss es doch einen Grund geben, warum jeder die Kleidungsstücke 'warm' nennt, vermuteten O'Briens SchülerInnen.

Sinnliche Wahrnehmung kann den Wandel von Konzepten ebenfalls blockieren. Wir erzählen den Kindern, dass 'Sehen Wissen ist', aber in den Wissenschaften trifft dies oft nicht zu. Berühren und Fühlen sind noch trügerischere Sinne. Obwohl O'Briens Thermometer auf Raumtemperatur geblieben sind, wurden und werden die Kinder jede Nacht warm unter ihrer Bettdecke, genauso, wie sie jeden Winter ihre warmen Mützen und Pullover angezogen haben und sofort die Wärme fühlten, die die Thermometer sich weigerten zu registrieren. Einige Tage voller überraschender Resultate im Klassenraum reichen nicht aus, um so tief 'gefühltes' Denken zu verändern. Lehrer und SchülerInnen lernen hier aus erster Hand die Mängel des Empirismus als einer Theorie des Wissens kennen. Wie Eleanor Duckworth so treffend formulierte: "Die kritischen Experimente vermitteln ihre Bedeutung nicht von selbst. Man muss einen großen Teil der Arbeit bereits getan haben, man muss ein Netz von Ideen entwickelt haben, in das man das Experiment sinnvoll einbinden kann."(6)

Deb O'Brien und einige ihrer besseren SchülerInnen hätten ihre Erkenntnisse der Klasse aufdrängen können, indem sie sagen: "Guckt auf die Thermometer - Raumtemperatur! Glaubt ihr jetzt, dass Pullover keine Wärme erzeugen?" Schulbücher versuchen genau dasselbe, indem sie klassische Fälle und kritische Experimente von den frühen Naturwissenschaften bis heute präsentieren. Aber, um es in Anlehnung an Louis Pasteurs Worte zu sagen, das Verstehen bevorzugt einen vorbereiteten Geist. Wenn der Lernende einen grßen Teil der Arbeit schon erledigt hat und Duckworth' "Netz der Ideen" gesponnen hat, in das der neue Gedanke eingebettet wird, dann ist es wahrscheinlicher, dass sich ein zündender Gedanke entwickelt. Wenn nicht, kann es sein, dass die Erfahrung bedeutungslos bleibt.

Obwohl Erwachsene und Kinder überwiegend den gleichen Lernbarrieren begegnen, gibt es doch auch einige Hindernisse auf dem Weg zur Veränderung von Konzepten, die entwicklungsbedingt sind. Erst Kinder in den mittleren Grundschuljahren beginnen, konkrete Operationen auszuführen. Wie Piagets Forschung gezeigt hat, tendieren Kinder in diesem Alter dazu, sich auf eine frühere Stufe ihres Denkens zurückzuziehen, wenn sie mit neuen Beweisen/Erkenntnissen konfrontiert werden. In diesem Fall ist es die prä-operationale Phase, die durch die Unfähigkeit charakterisiert ist, konkrete Eigenschaften wie Größe und Gewicht als Konstanten zu begreifen, und die durch Schwierigkeiten beim Messen und logischen Schlussfolgern gekennzeichnet ist.

Kinder dieser Entwicklungsstufe schwören angesichts von Tatsachen auf ihre Gefühle. Solange sie nur begrenzte Erfahrungen mit naturwissenschaftlichen Methoden haben, trauen sie ihren lebenslangen Überzeugungen mehr als einem Thermometer. Sie sind besonders für das empfänglich, was die Forscherin Judith Tschirigi "sensible reasoning" (7) nennt. Dieses Denken hat oft Vorrang vor Piagets "concrete reasoning" (konkrete Operationen). Kinder werden ihre Experimente modifizieren, um sie mit ihren Vorstellungen in Einklang zu bringen, lange bevor sie bereit sind, ihre Vorstellungen zu ändern, um den Tatsachen gerecht zu werden.

Da der kindliche Verstand ständig im Aufbau ist, müssen die Kinder vorsichtig behandelt werden, wenn es um die Veränderung der Konzepte gehen soll. Wie Deb O'Brien gelernt hat, ist es für beide, Schüler wie Lehrer, mit Frustrationen verbunden, wenn man von den SchülerInnen erwartet, dass sie ihre Konzepte bereits nach einigen widersprüchlichen Beobachtungen verändern. Ein Lehrer, der sich dazu entschließt, die Kinder ihre eigenen "Misskonzepte" in Angriff nehmen zu lassen, ist gut beraten, die 'Zone der maximalen Entwicklung' nach Lev Wygotsky (8) zu beachten. Sie ist auch als kindliche 'Konstruktions-Zone' bekannt. Entwicklungsfaktoren wie das Gedächtnis, der Aufbau von Fertigkeiten und die Schulung des logischen Denkens beeinflussen die Fähigkeit eines Kindes, neue Gedanken in bereits existierende Wissens-Schemata zu integrieren, so Wygotzky.

Die 'Konstruktionszone' umfasst jeweils all das, was ein Kind entwicklungsbedingt in der Lage ist zu bedenken. Wenn das Kind von seiner Entwicklung her noch nicht so weit ist, liegen vielleicht einige der neuen Informationen oder Fertigkeiten, die für die Veränderung der Konzepte benötigt werden, außerhalb der 'Konstruktionszone'. Die Tatsache, dass sich O'Briens SchülerInnen darüber freuten, dass das Thermometer in den 'warmen Sachen' um ein einziges Grad nach oben ging, deutet auf dieses Unvorbereitet-Sein hin. Sie haben versäumt zu bemerken, dass dieses eine Grad eine nicht signifikante Abweichung ist oder sogar aus einem Fehler beim Ablesen des Thermometers resultierte.

Konzeptveränderungen können nur innerhalb der 'Konstruktionszone' vonstatten gehen. Solange sich die wissenschaftlichen Fertigkeiten und die Denkgebäude der Kinder langsamer aufbauen lassen als so manches große Gebäude aus Stein, werden Konzeptveränderungen in den Wissenschaften nicht über Nacht geschehen. Zum Unglück vieler LehrerInnen gibt es keine vorfabrizierten Einheiten, die zu Denkgebäuden zusammengesetzt werden können, obwohl viele Schulbücher scheinbar Gegenteiliges behaupten.

Schließlich besitzt Wissenschaft an sich 'kritische Barrieren', die sowohl für Kinder als auch für Erwachsene gleichermaßen schwere Hürden darstellen, wie David Hawkins (9) schreibt. Neben den scheinbar angeborenen Problemen, die in das Verständnis von Größe, Gewicht, Volumen und elementarer Mechanik verwickelt sind, hat Hawkins einige dieser kritischen Barrieren innerhalb des Konzepts 'Wärme' identifiziert. Die Wahrnehmung der Sachen als 'warm' oder 'kalt' steht in einem Konflikt mit der Wahrnehmung eines Wissenschaftlers, der Wärme als messbare Einheit bei allen Dingen definiert, sagt Hawkins. Mit dem Hinweis, dass Wissenschaftler seit hunderten von Jahren Misskonzepte über Wärme vertreten, erinnert uns Hawkins daran, dass 'Wärme' zu verstehen, eine Schwierigkeit ist, die von SchülerInnen nicht in einer einzigen Zweiwochen- Einheit überwunden werden kann.

Es zum Guten wenden nach oben

Angesichts dieser vielen Hindernisse, scheint der Wandel der Konzepte im wissenschaftlichen Denken nicht nur sehr schwer zu sein, sondern fast unmöglich, insbesondere, wenn die Veränderung auf ein paar lumpigen, sich widersprechenden Beweisen basieren soll. Inzwischen wurden einige Lehrstrategien entwickelt, die LehrerInnen helfen können, diese Blockaden zu überwinden.

Wenn Diskrepanzen zwischen dem Denken der Kinder und den Tatsachen/Beweisen offensichtlich werden, dann übernimmt der Lehrer eine entscheidende Rolle. Weit davon entfernt, nur ein passiver Beobachter zu sein, kann der Lehrer/die Lehrerin durch eine Reihe von Methoden aktiv das Entstehen von neuen Denkmustern fördern.

1. Betonung der Relevanz

Weil Kinder so häufig annehmen, dass neue Informationen Sachen sind, ‚die man in der Schule lernt', muss der Lehrer neue Konzepte zum Lebensalltag der Kinder in Beziehung setzen. Im Zusammenhang mit dem Thema 'Wärme' fragte Deb O'Brien die Kinder, ob sie schon einmal das Gefühl hatten, dass Wärme von einem Objekt ausgestrahlt werde. Sie fragte sie, ob sie sich etwas vorstellen könnten, das Wärme 'einschließe', das Sachen warm halte, ohne sie zu erwärmen. Sie forderte sie auf, über Tiere nachzudenken, die einen 'warmen Mantel' hätten, und zu überlegen, ob diese Mäntel Wärme erzeugten. Sie fragte sie, ob ein kleines Stück Fell warm bliebe, wenn man es den Tieren über die Ohren ziehe. Bevor Kinder nicht die Bedeutung der Experimente für ihren Lebensalltag schätzen lernen, werden sie auftretende Diskrepanzen als ‚verrückte Sachen, die sie in Sachkunde gesehen haben' abtun.

2. Voraussagen treffen

Kinder, die aufgefordert werden, die Ergebnisse ihrer Experimente vorauszusagen, sind eher gewillt, ihr Denken zu ändern, als Kinder, die als passive Beobachter fungieren. Dieser vernachlässigte Aspekt in den sachkundlichen Aufgabenstellungen ist von besonderer Bedeutung. SchülerInnen, die Hypothesen bilden, werden damit aufgefordert, ihr neues Wissen mit dem, was sie bereits wissen, zu verbinden. In den ausführlichen Texten in den Heften haben die SchülerInnen von Deb O'Brien Temperaturen vorausgesagt und Begründungen für ihre Hypothesen geliefert. Obwohl sie damit zwar meistens falsch lagen, hatten sie so doch die Chance, ihre Gedanken vom Vortag in die Aufgaben von heute miteinzubeziehen. Der Einsatz von Lerntagebüchern in der Klasse von Deb O'Brien unterstützte ebenfalls das, was Piaget "reflexive Abstraktion" nennt (10) - die Chance, über das eigene Denken zu reflektieren, ohne das Entwicklung ebenfalls nicht möglich ist.

3. Betonung der Schlüssigkeit

Obwohl fast jeder recht komfortabel mit einer Fülle von ideologischen und politischen Widersprüchen lebt, sollte ein Lehrer Kinder, die neuen Denkmustern begegnen, darin unterstützen, in ihrem Denken konsequent zu sein. Ein Kind kann kategorisch behaupten, dass einerseits die Dicke des Schlafsacks die Wärme darin erzeugt, dass aber andererseits in einer aufgerollten Decke die Wärme durch Druck verursacht wird. Dasselbe Kind kann ebenfalls die Meinung vertreten, dass Mützen, die weder dick sind noch unter Druck stehen, aus keinem bestimmten Grund heiß werden.

Der Lehrer sollte vorsichtig die Aufmerksamkeit auf die Inkonsequenz im kindlichen Denken lenken, und die Kinder bitten, darüber nachzudenken, wie zwei sich widersprechende Aussagen gleichzeitig wahr sein können. Während einige Kinder die fehlende Logik der Widersprüche ignorieren werden, werden andere sich mit der Inkonsistenz auseinandersetzen und ihre Meinung schließlich ändern. Die Entwicklung von logischen, folgerichtigen Gedanken ist ein Nebenprodukt eines Unterrichts, der auf Konzeptveränderung abzielt. Die Zerstückelung von Wissen kommt zum Ausdruck, wenn Kinder denken, die Natur funktioniere zu Hause anders als in der Schule. Diese Verwirrung kann durch die Entwicklung eines vernunftgeleiteten Blicks auf die Welt verhindert werden. Katie hatte über solche Inkonsequenzen nachgedacht, als sie schrieb: "Warm und kalt sind manchmal komisch." Wenn sie aufgefordert wird, Konsistenz zu suchen, wird sie nicht zufrieden sein, bevor sie eine Ordnung in der Welt um sich herum erkannt hat.

Soll ein Konzept durch ein anderes ersetzt werden, müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein. Zunächst müssen die alten Vorstellungen durch direkte Beobachtungen, durch widersprechende Erfahrungen in Frage gestellt werden. Dann sollte eine neue Erklärung für das fragliche Phänomen gefunden werden, eine Begründung, die verständlich und einleuchtend ist (seien Sie vorsichtig mit Begrifflichkeiten!). Schließlich muss diese neue Erklärung in weiteren Tests und Experimenten überprüft werden. Wenn diese Bedingungen im Klassenraum geschaffen werden, können Lernprozesse im Sinne des 'conceptual change' angeregt werden.

Naheliegende Schlussfolgerungen nach oben

Den kindlichen Widerstand gegen Konzeptveränderungen zu überwinden, ist sicherlich ein nie endender Prozess. Kinder werden ihre sorgsam aufgebauten Denkschemata nicht leichtfertig unter dem Ansturm neuer Beweise über Bord werfen, egal, wie überzeugend sie scheinen mögen. Engagierte LehrerInnen nutzen eine Vielfalt von Strategien, einschließlich unendlicher Geduld und der Bereitschaft, die Kinder auch gegen den Strom in Richtung auf ein nur schwer fassbaren Ziel hin schwimmen zu lassen, um den SchülerInnen zu helfen, kritische Denkbarrieren zu überwinden. Aber der Widerstand, das eigene Denken zu verändern, ist nicht nur auf Wissenschaftler und SchülerInnen begrenzt.

Trotz der massiven und stichhaltigen Beweise, dass Kinder lernen, wenn sie handeln, wenn sie etwas verändern und experimentieren, basiert der Sachunterrichts überwiegend auch heute noch auf Lehrbüchern. Einige unabhängige LehrerInnen bemühen sich zwar, 'conceptual change' in ihrem Sachunterricht zu verwirklichen. Doch wenn man dies tut, entsteht eine Vielzahl von monumentalen Fragen für Curriculumforscher, Schulverwaltung, Lehrbuchautoren und all diejenigen, deren Arbeitsauftrag beinhaltet, darauf zu achten, dass die Lehrplananforderungen in jedwedem Fach erfüllt werden.

Jeder Lehrer, der seine professionelle Wirksamkeit überprüft, indem er das Verständnis seiner Schüler von Konzepten testet, sieht sich einem verwirrenden Dilemma gegenüber. (Natur)-wissenschaft in einer konstruktivistischen Weise zu unterrichten bedeutet, mehr Zeit zu investieren, denn es beinhaltet Diskussionen, Debatten und das Neuerfinden von Ideen. Anstatt vorab festgesetzten Schritten zu folgen, hängt das Curriculum, das sich in einem konstruktivistischen Unterricht entfaltet, in erster Linie vom Material ab und ist durch die Fragen der Kinder bestimmt. Weniger "Stoff" wird abgedeckt, weniger "Fakten" werden für den Test erinnert, und Fortschritt wird manchmal nur überaus langsam zu erzielen sein. Es ist mit Sicherheit ein Prozess des Aufdeckens und nicht des Abdeckens.

Die Alternative besteht darin, die vorgeschriebenen Inhalte zu behandeln und dabei ganz genau zu wissen, dass die Kinder das Fehlen des Erkenntniszuwachses verbergen und nur den Lehrer "bedienen", anstatt etwas über den Inhalt zu lernen. Um zu überleben, haben SchülerInnen gelernt, den Lehrern genau das zu geben, was sie haben wollen, egal ob es sich dabei um das Auswendiglernen von Buchdefinitionen und von Begriffen handelt oder um das Anfertigen von Versuchsbeschreibungen im vorgeschriebenen Format oder um das Ankreuzen der richtigen Kästchen im Examen.

Erfolgreiche SchülerInnen haben diese Dinge schon immer getan, und wir glauben, dass sie dies auch weiterhin tun werden. Es ist ihr Weg des Überlebens in der Schule. Nichts desto trotz, ihr Verhalten präsentiert den Lehrern ein uraltes Dilemma: Sollen wir den Rahmenplan erfüllen, wohl wissend, dass die Inhalte, wenn überhaupt, nur oberflächlich bearbeitet - akkomodiert, aber nicht assimiliert - werden? Oder sollen wir dieses Erfüllen, dieses Abdecken vergessen, und den Kindern dabei helfen, ihre ungesicherten Konzepte über die Welt zu überprüfen, indem wir Fragen provozieren, Voraussagen und Experimente anregen - wissend, dass wir Breite opfern um der Tiefe willen? Wir glauben, dass diese Fragen in den nächsten zehn Jahren zentral sein werden. Darüber hinaus ist mehr Forschung nötig, um mehr über den sozialen Aspekt des Lernens herauszufinden, darüber, wie die SchülerInnen ihr konzeptionelles Verständnis ausserhalb des Klassenzimmers benutzen, und wie aus ihren Erfahrungen wissenschaftliche Modelle erwachsen, die sie befriedigend finden.

Eine Sache ist sicher: Wir müssen intensiver die Sichtweise der Kinder erforschen, um etwas über die Zwecke herauszufinden, denen ihre Betrachtungsweisen dienen. Wir müssen mehr über die angeborene Struktur erfahren und darüber, wie sie geformt und benutzt wird. Vielleicht werden wir dann eher in der Lage sein, unsere Rolle als Lehrer zu verstehen.

SchülerInnen auf dem 'heißen Stuhl' nach oben

Den dritten Tag in Folge rannten die Kinder nun schon, sobald sie in der Klasse ankamen, zu ihren Experimenten. Der Pullover, der Schlafsack, die Mütze wurden ausgepackt. Erneut zeigten die Thermometer einheitlich Raumtemperatur an. Deb O'Brien ließ die enttäuschten SchülerInnen in ihre Lerntagebücher schreiben. Aber nach kurzer Zeit des Diskutierens erkannte sie, dass die Kinder in eine Sackgasse geraten waren. Hinsichtlich ihrer alten Theorien waren sie augenscheinlich mit ihrem Latein am Ende, aber sie hatten noch keine neue Theorie, die sie an deren Stelle setzen konnten. Die Lehrerin entschied sich dazu, den Kindern die Wahl zwischen zwei möglichen Aussagen anzubieten. "Wählt Aussage A oder B", sagte sie ihnen. Das erste Statement besagte, dass Wärme von fast allen Sachen kommen könne, Mützen und Pullover eingeschlossen. Wenn wir diese Wärme messen - so Aussage A - werden wir manchmal an der Nase herumgeführt, weil wir dann in Wirklichkeit kalte Luft messen, die in die Sachen hineingelangt ist. Das war natürlich das, was die meisten Kinder am Anfang geglaubt hatten. Das Statement B, das sich O'Brien ausgedacht hatte, zeigte eine Alternative auf: Wärme kommt überwiegend von der Sonne und unseren Körpern und ist in Wintersachen, die unsere Körperwärme festhalten und die kalte Luft draußen lassen, eingefangen.

"Schreibt auf, was ihr denkt", forderte sie die Klasse auf. "Dann stellt euch in diese Ecke, wenn ihr glaubt, dass A richtig ist, und hier hin, wenn ihr glaubt, dass B zutrifft. Wenn ihr euch nicht sicher seid, dann stellt euch hier vorne hin."

Bleistifte spielten an Lippen, und Augen studierten die Zimmerdecke. Schließlich, nach ausgiebigem Nachdenken, wurden die Aussagen in den Heften festgehalten. Schülerinnen gingen auf die Tafel zu, bereit, sich nach rechts oder links zu drehen. Katie ging nach links in die B-Ecke. Owen blieb einen Moment in der Mitte stehen und folgte dann Katie. Neil drehte sich nach rechts und stand zu seiner "heiße-Mütze"-Theorie. Christian stand in der Mitte. Eine Schülerin nach der anderen bezog einen Standpunkt. Und als die kalten Windstöße der nahenden Pause durch den Klassenraum fegten, zählte Deb O'Brien die Kinder. Einige wenige Kinder hatten sich Neil angeschlossen. Sturheit vielleicht, aber die Lehrerin musste die Stärke ihrer Überzeugung bewundern. Christian und ein anderes Kind standen unentschieden in der Mitte, während der Rest der Klasse stolz bei Katie und Owen stand, nun durch ihr eigenes Experimentieren überzeugt davon, dass warme Kleidungsstücke nicht wirklich warm sind, und dass die Wärme, die scheinbar von ihnen kommt, tatsächlich von den warmen Körpern kommt, die sie umwickeln.

"Wie können wir diese neue Theorie testen?", fragte Deb O'Brien. Sofort fiel Neil etwas ein: "Wir legen die Thermometer unter unsere Mützen, während wir sie tragen!" Und so gingen die Kinder in die Pause - heute mit ihren Experimenten auf dem Kopf.

Als sich Deb O'Brien während der Pause entspannte, ließ sie die vergangenen drei Tage Revue passieren. Haben die Kinder wirklich ihre Meinung geändert? Oder sind sie einfach nur ihrem Anführer gefolgt? Können sie wirklich ihre Ideen im Rahmen einiger Unterrichtsstunden ändern? Wird irgendeine ihrer Aktivitäten ihnen helfen, den standardisierten Test im Mai zu bestehen? Deb O'Brien war sich nicht sicher, ob sie irgendeine dieser Fragen positiv beantworten könnte. Aber als die Kinder allmorgendlich zu ihren Experimenten rannten, über ihre Erkenntnisse schrieben, miteinander sprachen, dachten, Fragen stellten, da hatte sie in die Gesichter junger Forscher geblickt - und das war für's erste genug.

Anmerkungen und Literaturangaben nach oben

  1. John Dewey, How We Think (Boston: Health 1910); and Gerald S. Craig, "Certain Techniques Used in Developing a Course of Study in Science for the Horace Mann Elementary School" (Doctoral Dissertation, Columbia University, 1927).
  2. Jerome S. Bruner, The Process of Education (Cambridge/Mass.: Harvard University Press, 1960); Robert M. Gagné, The Conditions of Learning (New York: Holt, Rinehart & Winston, 1977) and Jean Piaget, "Cognitive Development in Children: Development and Learning," Journal of Research in Science Teaching, vol. 2, 1964, pp. 176-186.
  3. David P. Ausubel, Joseph D. Novak and Helen Hanesian, Educational Psychology: A Cognitive View, 2nd ed. (New York: Holt, Rinehart & Winston, 1978); Rosalind Driver and J.A. Easley, "Pupils and Paradigms: A Review of Literature Related to Concept Development in Adolescent Science", Studies in Science Education, vol. 5, 1978, pp.61-84; and John Clement, "Students Alternative Conceptions in Mechanics: A Coherent System of Preconceptions?", in H. Helm and Joseph D. Novak, eds., Proceedings of the International Seminar: Misconceptions in Science and Mathematics (New York: Cornell University Press), 1983).
  4. Thomas Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions (Chicago: University of Chicago Press, 1962).
  5. Imre Lakatos, Proofs and Refutations: The Logic of Mathematical Discovery. (Cambridge: Cambridge University Press, 1976).
  6. Eleanor Duckworth, Inventing Density (Grand Forks, N.D.: Center for Teaching and Learning, University of North Dakota, 1986), p. 39.
    http://www.exploratorium.edu/IFI/resources/research/inventingdensity1.html
  7. Judith E. Tschirigi, "Sensible Reasoning: A Hypothesis About Hypothesis", Child Development, vol. 51, 1980, pp. 1-10.
  8. Lev S. Wygotsky, Thought and Language (Cambridge, Mass.: MIT Press, 1962).
  9. David Hawkins, "Critical Barriers to Science Learning", Outlook vol. 29, 1978, pp. 3-23.
    http://www.exploratorium.edu/IFI/resources/museumeducation/criticalbarriers.html
  10. Jean Piaget, Structuralism (New York: Harper & Row, 1968).
  11. George J. Posner et al., "Accommodation of a Scientific Conception: Toward a Theory of Conceptual Change", Science Education, vol. 66, 1982, pp. 211-227.

BRUCE WATSON ist ein ehemaliger Sachkundelehrer, arbeitet freiberuflich als Schriftsteller und lebt in Amherst, Massachusetts.

RICHARD KOPNICEK ist Professor für Didaktik der Naturwissenschaften an der University of Massachusetts, Amherst.

Die National Science Foundation hat die finanziellen Mittel für die Forschung, auf der dieser Artikel basiert, dem "Five College Inc. Amherst, Mass." zur Verfügung gestellt. Das Projekt "Partnership in Elementary Science" ermöglichte, für 100 LehrerInnen von 1987 - 1990 Lehrerfortbildung anzubieten.

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