zur Homepage Entdeckendes Lernen e.V.
Entdeckendes Lernen e.V.

www.entdeckendes-lernen.de

Die Fragen hinter den Fragen -
Reflexionen zum Entdeckenden Lernen von Kindern und Erwachsenen

von Stanley Chu, Karin Ernst, Marie-Claude Flügge, Angela Glänzel, Katrin Lorenz, Margret Oellrich, Bärbel Scholl und Gerardo Torres
aufgezeichnet und nach-gedacht von Karin Ernst
Veröffentlicht in:
Grundschultreffen Entdeckendes Lernen, Klingberg 1987, hrsg. v. der Lernwerkstatt an der TU Berlin, April 1988 (Überarbeitete Fassung).
© Karin Ernst 1990, 2001, All rights reserved


"Infantilisierung"
Lernen und Persönliches Motiv

"Second Questions"


Seit 1985 findet jedes Jahr im Sommer für 5 Tage das "Norddeutsches Grundschultreffen" statt. Ursprünglich von Jenny Wieneke-Kranz und der Lernwerkstatt an der TU Berlin als regionale und schulstufenspezifische Ergänzung zu den Freinet-Bundestreffen initiiert, wandert die Aufgabe der vorbereitenden Organisation nun auch durch andere Lernwerkstätten. Das entdeckende, forschende, "suchende", sich einlassende Lernen von Erwachsenen war von vornherein ein wesentlicher Schwerpunkt auf diesen Treffen und hat gerade unter Freinet-Pädagoginnen und -Pädagogen auch Kontroversen ausgelöst. Gleichzeitig trugen die entsprechenden Angebote wesentlich zur Verbreitung dieses Ansatzes und der Lernwerkstatt-Arbeit überhaupt bei. Über die Diskussion zu den F ragen und Problemen, die entstehen, wenn man auf diese Weise zu lernen begonnen hat, berichtet das folgende Protokoll.

An den Nachmittagen des Grundschultreffens 1987 in Klingberg haben wir in kleinen Gruppen, manchmal auch nur zu zweit, über Fragen zum Entdeckenden Lernen geredet, die erst auftauchen, wenn man mit dieser Art zu lernen einige Erfahrungen hat. Stan Chu vom New Yorker Workshop Center, der diese Diskussionen wesentlich mit initiiert hat, nannte das Thema "Second questions". Dies klang recht geheimnisvoll, provozierte deshalb natürlich auch genaueres Nachfragen. Mein eigenes Interesse an diesen Diskussionen war es, über meine persönlichen Lernerfahrungen mit anderen ins Gespräch zu kommen, und den Gesamtrahmen des Entdeckenden Lernens, vor allem auch des Entdeckenden Lernens von Erwachsenen, einmal anzusprechen.

"Infantilisierung" nach oben

Ich wollte die Serie dieser Diskussionen gerne einleiten mit einem Gespräch über die "Infantilisierung" in dieser Arbeit - gemeint als Provokation zur Frage, worin sich eigentlich kindliches und erwachsenes Entdeckendes Lernen unterscheidet und was die Berechtigung für unser Tun, z. B. auch auf Grundschultreffen, ist. Die Gruppendiskussion kam nicht zustande; das Problem hingegen tauchte in vielfältiger Form auf:

"Infantilisierung" trat also einerseits als Gefahr auf, - als Angst davor, so naiv und unerfahren wie ein Kind zu sein und sich damit unter Erwachsenen lächerlich zu machen -, zum anderen aber als Chance, sich wieder so dumm wie ein Kind anstellen zu dürfen, wenn man dabei dann etwas lernt, was Kindern nützt. Dieses Thema ist längst nicht ausdiskutiert und wird sich immer wieder stellen, solange entdeckend gelernt und nicht nur über Entdeckendes Lernen geredet wird.

Im folgenden soll aber von Lernprozessen die Rede sein, in denen die Frage, ob man so überhaupt lernen dürfe, keine große Rolle mehr spielte. Wir, die wir unsere Lernerfahrungen zur Diskussion stellten, hatten bereits entdeckend gelernt, und dies über eine lange Zeit. Dass damit für uns als Erwachsene entscheidende Erkenntnisse verbunden gewesen waren, stand für uns außer Frage. Gerade deshalb wollten wir unsere Lernprozesse genauer durchdenken. Wenn wir aus unserem Lernen so viel lernen konnten, dass es uns auch half, kindliches Lernen genauer zu verstehen - umso besser.

Lernen und Persönliches Motiv nach oben

Die Frage, aus welchen persönlichen Motiven sich das Entdeckende Lernen speist, beschäftigt uns in der Lernwerkstatt schon lange. In unseren Intensivfortbildungen sind die konkreten Fragestellungen, die das entdeckende Lernen der einzelnen auslösen, frei wählbar - kaum jemand glaubt aber, dass es egal ist, worauf sich das jeweilige Interesse richtet. Welche tiefergehenden Fragen jedoch hinter der Beschäftigung mit Sand, farbigen Schatten, Rädern, Brücken, Mustern, ... stecken, ist auf den ersten Blick nicht erkennbar. Nur selten gelingt es, aus einem gegenstandsbezogenen Lernprozess schon innerhalb einer Woche sinnvoll auf ein persönlich-biografisches Motiv zu schließen und damit angemessen umzugehen. Im allgemeinen ist viel mehr Zeit nötig, um herauszufinden, was einem die faszinierenden Studien, die man treibt, eigentlich "sagen" wollen. Man kann sogar bezweifeln, ob dies überhaupt herauszufinden ist und ob es nötig ist, sein Motiv zu kennen. Und auch ohne sich über seinen persönlichen Antrieb beim Lernen im Klaren zu sein, kann man sehr viel über den konkreten Gegenstand, das konkrete Thema, das man sich gewählt hat, lernen.

Bei der Diskussion in Klingberg konnten wir uns auf mehrere ausführliche Erfahrungsberichte stützen: Marie-Claude stellte ihre Bildersammlung zum Thema "Schuhe - Korsetts - Bodystyling" aus, las aus ihren Texten zu diesem Thema vor und berichtete über ihre Lernerfahrungen. Meine Studien zum "Farben entdecken" waren vielen bekannt, Margret hatte zum Treffen eine Dia-Dokumentation über ihre Erkundungen auf dem Bauernhof ihrer Kindheit mitgebracht, wer in der Lernwerkstatt oder im Workshop Center gearbeitet hatte, kannte sich mit persönlich bedeutsamen Entdeckungsprozessen aus. Dies alles, aber insbesondere Marie-Claudes Bericht, war das Ausgangsmaterial für unser erstes Gespräch.

Meine Notizen aus dieser Diskussion sind nur lückenhaft, meine Erfahrungen mit diesem Problem jedoch nicht. Deshalb ist dies kein Protokoll, sondern ein Nach-Denken über ein Thema, das uns nicht nur in Klingberg 1987 beschäftigt hat.

Das eigene Lernen und die anderen nach oben

Marie-Claude warf ziemlich schnell die Frage auf, ob persönlichen Lernerfahrungen überhaupt für andere interessant sind und ob sie sich so darstellen lassen, dass auch andere etwas davon haben. Ihr eigener Bericht, dem wir alle gespannt zuhörten, sprach gegen die Vermutung, dass so etwas Banales wie "Schuhe" überhaupt jemanden anderen interessieren könnte. Das Thema und seine Ausweitung hin zur Gestaltung der körperlichen Erscheinung interessierte uns ganz offensichtlich. Ich selbst hatte mit dem Bericht über die Suche nach und die Auseinandersetzung mit "meinem Blau" ähnliche Erfahrungen gemacht: trotz des sehr persönlichen Themas - über lange Zeit wussten andere Leuten nicht einmal, was das eigentlich für eine Farbe war, der ich auf der Spur war - erreichte ich mit dem Bericht meine ZuhörerInnen immer ganz unmittelbar. Gerade die persönliche Fragestellung schien es möglich zu machen, Lernerfahrungen zu teilen oder Erinnerungen an ähnliche Lernerfahrungen zu wecken.

Aber ich wusste aus meiner eigenen Erfahrung auch, dass der ermutigende Spruch "Natürlich kannst Du das fragen!", ausgesprochen von einer Workshop-Leiterin, die Probleme nicht löste. Das in der Konzeption einer Fortbildungsveranstaltung niedergelegte "Recht auf die eigene Frage" schützt noch lange nicht vor Kritik an der Auswahl der realen Frage, vor Zweifeln am Sinn der Wahl und vor Verwirrung bei der Suche nach Antworten. Als ich im Workshop Center auf der Suche nach "meinem Blau" an blauen Farbtafeln zum Simultankontrast malte, wurde ich mehr als einmal gefragt, was ich denn eigentlich beabsichtige und ob ich wirklich glaube, auf diese Weise weiterzukommen. Der Kommentar einer flüchtig hinsehenden Kursleiterin, ich beschäftige mich offensichtlich mit Schimmel auf anorganischen Stoffen, half mir erst recht nicht weiter, sondern verstärkte nur mein Gefühl, von niemandem verstanden zu werden und folglich auch nichts Sinnvolles zu tun.

Aber hier liegt vielleicht auch der Schlüssel zum Umgang mit dem Problem der scheinbaren Banalität des persönlichen Lernens: erst wenn das, was ich tue, für mich und andere einen erkennbaren Sinn macht, bin ich mutig genug, einer banalen Frage so lange weiter nachzugehen, bis sie nicht mehr klein und banal ist, sondern sich zu größeren und bedeutsameren Fragen entfaltet, deren Inhalt für andere und für mich selbst in umfassenderer Weise Bedeutung hat. Auf der anderen Seite kann ich "Sinn" nicht von vornherein herbeizwingen: Ich brauche die Phase des scheinbar planlosen Herumsuchens, Sammelns und Probierens, damit sich überhaupt eine wirkliche Frage abzeichnet. Und offensichtlich muss ich auch grundsätzlich bereit sein, zu akzeptieren, dass das, was mich bewegt, für andere bedeutungsvoll sein kann, sonst hilft es mir nichts, wenn sie sich auf mein Lernen einlassen.

Inzwischen überlege ich, ob alle Themen, die uns in entdeckenden Lernprozessen als motivierend und über längere Zeit faszinierend begegnet sind, sich nicht durch besonders hohe Komplexität ausgezeichnet haben, so dass die Fragen, die aus ihnen entstehen, nicht nur individuelle Bedeutung haben, sondern auch Teil eines großen kulturellen und historischen Diskussionszusammenhangs sind. Das würde erklären, warum persönlich bedeutsame Fragen so leicht den Kontakt zu anderen Fragenden herstellen. Zu dieser Überlegung passt der Aspekt, den Gerardo immer wieder in die Diskussion warf: dass keine Frage, der man nachgeht, wirklich persönlich sei, sondern untrennbar mit der eigenen Kultur und deren Geschichte verbunden.

Die Verwandlung und Verschiebung von Fragen nach oben

Ein anderes Phänomen, das, wie wir feststellten, allen "Entdeckern" vertraut war, war die allmähliche Verwandlung und Verschiebung der Ausgangsfrage. Bei Marie-Claude wurde das Interesse an Schuhen nach und nach durch das Interesse an äußeren und inneren Mitteln der Körperformung und an historischen Körper-Idealen überlagert. Ich begegnete auf meiner Entdeckungsreise "ins Blaue" zunächst dem erkenntnistheoretischen Problem der Komplementarität und landete, nach einem Zwischenaufenthalt an der Station "Muster und Strukturen", schließlich bei den realen, innerpsychischen und kognitiven "Landkarten".

Was Marie-Claude und Margret inzwischen über ihre Lernprozesse denken und wie sie deren Sinn und Ablauf bewerten, weiß ich nicht. Ich kann von mir sagen, dass die scheinbare Themenverschiebung sich als ein Wiederaufgreifen vorerst liegengelassener Themenfäden herausstellte und mein Lernprozess für mich im Rückblick einen faszinierend folgerichtigen Eindruck macht. Aber das wusste ich nicht schon, während ich noch mitten im Lernen steckte, und ich kann mir vorstellen, dass die Interessenverschiebung beim entdeckenden Lernen für einen außenstehenden Beobachter den Eindruck hoher Inkonsequenz macht.

Die Zeit für und das Ende von Fragen nach oben

Ist eine Frage eigentlich beantwortet, wenn sie durch eine andere Frage abgelöst wird? Und was haben wir von der beantworteten Frage? - Diese Probleme beschäftigten uns angesichts der Beobachtungen, dass man, wenn man sich lange genug Zeit lässt, immer wieder andere Aspekte seiner Frage erkundet, dass aber trotzdem irgendwann "die Luft raus ist" und jegliches Interesse erlischt.

Dass Zeit-haben und Zurückkommen-dürfen entscheidende Faktoren beim Entdeckenden Lernen sind, war uns allen klar. Gerade angesichts der mangelnden Systematik von Entdeckungsprozessen kann nicht zu einem festgesetzten Zeitpunkt das Erreichen eines bestimmten Ziels vorausgesagt werden. (Aber wer glaubt heute schon noch an diese Doktrin des traditionellen Schulunterrichts?) Schwieriger wurde es angesichts des Erlöschens von Interesse. Haben wir wirklich nur so lange etwas von unserer Frage, wie sie uns in Atem hält?

Wenn ich auf mein Entdecken von Farben zurückblicke, bin ich eigentlich nicht traurig, dass "mein Blau" für mich nun nicht mehr im Vordergrund steht. Ich habe ausgesprochen viel über diese und andere Farben gelernt und kenne mich im Bereich von Farbe schlichtweg gut aus. Selbst wenn ich nicht mehr unausgesetzt über Farben nachdenke, steht mir mein Wissen doch zur Verfügung, wenn ich es brauche. Wissenserweiterungen machen mir Spaß, wenn sich die Gelegenheit bietet, sind aber nicht dringlich. Ich fühle mich vielmehr frei für andere Fragen.

Wenn ich auf meine Lebenssituation in der intensivsten Phase meines Entdeckungsprozesses zurückblicke - in einer ausführlicheren Studie ist nachzulesen, dass es in dieser Zeit möglichweise um die eigene Standortbestimmung und das Verhältnis zwischen kreativen und intellektuellen Persönlichkeitsanteilen ging -, so bin ich nicht traurig darüber, dass die damaligen Probleme einigermaßen erledigt sind. Warum soll ich immer nur nach einem Standpunkt suchen, warum ihn nicht eines Tages auch finden und vertreten? Warum soll ich nicht froh darüber sein, die Spannung zwischen Intuition und Systematik nun besser zu bewältigen? Meine Entdeckungsreise ins Blaue hatte hier eine Bedeutung weit über das konkrete Mischen und Vergleichen von Farben hinaus. Aber muss diese Reise immer weiter gehen? Besser gesagt: Gibt es nicht auch andere Ziele?

Inzwischen sind meine konkreten Studien in meinem allmählich erwachten Interesse an Erkenntnistheorie aufgehoben, und wann ich hier ein Ende finden werde, weiß ich noch nicht.

Gefühle als Begleiter von Fragen nach oben

Schließlich kamen wir - möglicherweise nur Marie-Claude und ich - auf die Beobachtung zu sprechen, das Entdeckendes Lernen keineswegs ein lustiger, spaßiger, immer nur Glück bringender Prozess ist. Wir erinnerten uns vielmehr an ausgeprägte Gefühle von Unlust, Desorientierung, Unzufriedenheit, Ungeduld, usw. Mehr als einmal waren wir an dem Punkt, alles hinzuschmeißen, - da wir freiwillig lernten, haben wir es häufig genug getan.

Schon der Beginn war jeweils kein ungetrübter, freudiger Start ins Abenteuer. Wir begannen eher mit einer Dissonanz und einem inneren Konflikt: Ich war zwar vom Anblick meines besonderen Blaus entzückt, aber eine innere Stimme sagte mir recht bald, dass man an so einer kalten Farbe keinen Gefallen finden dürfe. Bei Marie-Claude meldeten sich, so weit ich mich erinnere, mit ihrem Interesse an schönen Schuhen zugleich die Kritik, dass Schuhe praktisch und haltbar zu sein hätten. Wir begannen mit unseren Entdeckungen also wahrscheinlich, um unsere inneren Kritiker zu beruhigen. (Ich denke, das ist uns auch gelungen.)

Freude und Faszination an immer neuen Entdeckungen und Erkenntnissen waren zwar sicher der Motor unseres Lernprozesses, aber ich glaube, Zweifel und Verwirrung spielten eine genauso wichtige Rolle. Nur weil uns manches nicht klar war, ordneten und durchdachten wir unsere Entdeckungen und fanden dabei neue Spuren, denen es zu folgen lohnte. Nur weil uns andere nicht verstanden, wurden wir verständlich und überzeugend.

Zufriedenheit und Erfolg schafften die Sicherheit, neue Zweifel zuzulassen, - die mit den Zweifeln aufkommende Unlust strebte dringend nach neuen Erfolgen und Lösungen. Deshalb ist auch die Ruhe und Leere, die wir am Ende unserer Frage erreichen, immer nur von kurzer Dauer. Eigentlich brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, dass wir nichts mehr zum Entdecken finden werden - die nächste Frage wartet schon.

"Second Questions" nach oben

Ein neuer Anfang: was ist die nächste Frage? Was ist die "wirkliche" Frage? An einem weiteren Nachmittag trafen wir uns in neuer Zusammensetzung, um diesem Problem noch einmal nachzugehen.

Ich erzählte zu Beginn von meinen Erlebnissen am Vormittag:

Auf der Suche nach Fragen nach oben

Zusammen mit Urs und Jonas war ich im Wald umhergestreift, als es noch trübe und feucht war. Wir bildeten so etwas wie eine "Baum"-Erkundungsgruppe, - wenigstens für zwei Stunden. Jonas, etwa drei Jahre alt, sah im trüben, nebligen Wald bald eine F een- und Zauberlandschaft, in der das Wunder hinter jedem Baumstumpf wartete. Wir erkundeten Schachtelhalmwälder, in denen sicher die Hexe wohnte, und geheimnisvolle Zauberteiche, in denen man ertrinken konnte. Während Jonas von Baumstumpf zu Baumstumpf auf Entdeckungen ausging (schon allein von der Fülle und Wiederkehr des einmal entdeckten Phänomens "Baumstumpf" fasziniert), betrachteten Urs und ich die Gestalt unterschiedlicher Bäume, die Verzweigungsmuster von Blättern, die Flechtenlandschaften auf Baumstämmen, das krabbelige Leben auf und unter einem vermodernden Baum. Wir fanden eine Frage nach der anderen, wurden immer genauer in unserer Beobachtung, machten uns gegenseitig auf immer mehr Details aufmerksam.... Wir fanden keine wirkliche Frage.

Am Nachmittag bin ich noch einmal allein in den "Zauberwald" gegangen, der nun nichts Geheimnisvolles mehr hatte, sondern im strahlenden Sonnenlicht eher eine Studie über die Wandlungen der Farbe Grün nahelegte. Jetzt fand ich erst recht keine Frage.

Wie, wann, unter welchen Bedingungen entsteht eine Frage - um mit Stan zu sprechen: die zweite, die wirkliche Frage, die die Fülle der ersten, oberflächlichen Fragen ablöst?

Die Erfahrung, dass eine so komplexe Gegebenheit wie ein Wald es sehr schwer macht, schnell eine kleine, tragfähige Frage zu finden, hatten wir alle gemacht. Stan war der Wald zunächst nur überwältigend grün und alles in allem sehr seltsam erschienen. Auch nach mehreren Spaziergängen, in denen Frage auf Frage entstanden war, hatte er kein besonderes Interesse am Wald entwickelt. Katrin berichtete lakonisch, dass sie ganz froh gewesen sei, am Strand bald auf die Idee gekommen zu sein, ein Segelboot zu bauen. Auch der Strand und das Wasser waren nämlich eigentlich so komplex, dass man gar nicht wusste, wo man mit seinen Fragen beginnen sollte.

Bärbel und ich berichteten aus unserer "Baum"-Gruppe in der Lernwerkstatt, dass wir uns nun schon seit fast einem Jahr regelmäßig mit Bäumen beschäftigten, darüber inzwischen auch viel wüssten, aber niemand von uns nachhaltig von Bäumen fasziniert sei. Trotzdem habe sich unsere Beobachtung verfeinert und seien wir in ganz anderer Weise für die Besonderheiten von Bäumen empfänglich. - Entdeckungen waren also auch möglich, ohne dass überhaupt eine "wirkliche" Frage entstand.

Erkenntnisse über "zweite Fragen" nach oben

Nach und nach trugen wir folgende Beobachtungen und Erkenntnisse zusammen:

Kinderfragen nach oben

Das Entdeckende Lernen von Kindern, insbesondere auf dem Hintergrund der Diskussion zum "persönlichen Motiv", blieb in unserer Diskussion eigentümlich blass. Ich denke, niemand hatte damit so ausgeprägte Erfahrungen, dass sich darüber so authentisch hätte berichten lassen, wie über unser eigenes Lernen. Es tauchten eher Zweifel auf, ob Kinder überhaupt lange an einer Sache bleiben können, ob man als LehrerIn merkt, um was es Kindern im Innersten geht, ob die Schule der richtige Ort ist, um "so" zu lernen.

Ich möchte an dieser Stelle deshalb von "Daniela und dem Schaf" erzählen. Mit Hilfe von Daniela bin ich überhaupt auf persönliche Motive im Lernen aufmerksam geworden. Vielleicht regt das Beispiel dazu an, Lernprozesse von Kindern anders zu betrachten.

In einer dritten Klasse an einer Kreuzberger Grundschule, die in den Modellversuch eingebunden war, in dem ich damals arbeitete, wurde seit einigen Wochen über "Tiere" gearbeitet. In der Schule gab es dazu gute Voraussetzungen: auf dem Schulhof lebten Schafe und andere Tiere, die von den Kindern häufig besucht wurden. Daniela hatte sich als Unterthema "Schafe" ausgesucht. Im Gegensatz zu den anderen Kindern arbeitete sie an ihrem Thema immer weiter und weiter. War sie vorher in der Klasse als nicht besonders eifrig und an der Schule eher desinteressiert aufgefallen, so überraschte sie jetzt durch Interesse und intensive Arbeit. Innerhalb weniger Wochen verbesserten sich ihre Leistungen im Lesen und Schreiben auffällig. Sie ließ sich die bei der Schafschur gewonnene Wolle verspinnen und lernte stricken. Im Laufe der Zeit stellte sie ihr erstes eigenes Projektbuch zusammen, das sorgfältig in einen selbstgestrickten Umschlag eingehüllt wurde.

Dies wäre möglicherweise an uns vorbeigegangen, hätten wir in unserem Modellversuch nicht nach "Schlüsselsituationen" im Freire'schen Sinne gesucht, - nach Auslösern in der Lebenssituation von Kindern, die das Aneignen bestimmter (curricular vorgegebener) Inhalte und Erfahrungen sinnvoll machte. Danielas Lehrerin meinte, sie habe bei Daniela so etwas wie eine "persönliche Schlüsselsituation" entdeckt. Dass das Thema "Schafe" möglicherweise für Daniela besondere Bedeutung hatte, hatte sie aus einem freien Text herausgelesen, den Daniela nach einiger Zeit schrieb:

"Eine Geschichte von einem Lämmchen.

Es war einmal ein Lämmchen. / Das wollte einen Brief an seine Oma schreiben. / Also: / Liebe Oma!!! / Wie geht es Dir? Mir geht es gut. / Was macht die Schule in Stockholm? / Was machst Du denn mit mir, wenn ich in den F erien zu Dir komme? / Was macht Opa bei der Arbeit? / Mäh! Mäh! Mäh! / Viele Grüße / Dein Enkel."

Dieser etwas rätselhafte Text führte zu einem Gespräch mit Daniela, weil die Lehrerin und ein paar andere Kinder gerne wissen wollten, was damit eigentlich gemeint sei. Es stellte sich heraus, dass Daniela als kleineres Kind auf dem Bauernhof ihrer Großeltern gelebt und dort ein eigenes Schaf gehabt hatte, dass dieses Schaf irgendwann geschlachtet wurde, und dass Daniela dessen Fell aufbewahrte. Sie brachte das Fell in die Schule mit und erzählte ausführlich von ihrem Lämmchen.

Die Lehrerin und ich nahmen nun an, dass für Daniela das schulische Lernen in dem Maße an Interesse gewonnen hatte, wie sie ihre eigenen Erinnerungen und etwas, was in ihrem Leben sehr wichtig gewesen war, in dieses Lernen integrieren, ja vielleicht sogar mit seiner Hilfe besser bearbeiten konnte.

In der Lernwerkstatt sind wir uns über die Folgerungen, die wir aus dieser Geschichte über den Umgang mit persönlichen Lernprozessen von Kindern ziehen sollen, nicht einig. Es gibt, im Anschluss an Fallstudien von Paul Le Bohec, die Meinung, dass Kinder das, was sie bewegt, z.B. über Freie Texte solange thematisieren können, bis das Problem gelöst ist, ohne dass den Kindern je bewusst geworden ist, dass sie überhaupt ein Problem hatten, oder dass das Problem auf einer anderen Ebene bewusster bearbeitet worden wäre.

Ich bin da etwas anderer Meinung. Zwar glaube ich auch nicht, dass es Kindern hilft, wenn man ihnen freudig sagt: "Du hast da das und das Problem und jetzt lösen wir es." Oder: "Du hast Deinen Konflikt gut bearbeitet." Dies würden wir aber auch nicht mit Erwachsenen tun, für die sich ein persönliches Problem während eines Entdeckungsprozesses stellt und klärt. Ich denke aber, dass für Daniela ein paar Faktoren wichtig waren, die über das bloße Gewährenlassen hinausgehen:

Insgesamt war Danielas Lernprozess vielleicht nur deshalb so erfolgreich, weil Daniela auf vielfache Weise vermittelt wurde, dass das, was sie tat, sinnvoll und für andere verständlich und wichtig war. Dass das, was Daniela über Schafe gelernt hatte, auch in tieferem Sinne etwas "bedeutete", war Daniela vielleicht nur "konkret" bewußt, - aber sie fühlte, dass ihr Lernen Sinn machte.

Einmal auf die mögliche Bedeutung eines "persönlichen Schlüssels" bei der Beschäftigung mit konkreten Lerngegenständen aufmerksam geworden, haben wir begonnen, dieses Phänomen weiter zu beobachten. Es wäre schön, wenn sich andere anschließen könnten.

Aber nun wieder zurück zur Klingberger Diskussionsgruppe:

Zum Schluss wurde uns klar, dass Entdeckendes Lernen in der Schule - abgesehen vom Vorhandensein einer offenen Lernsituation - am ehesten zu realisieren ist, wenn man auch als LehrerIn seine Fragefähigkeit entwickelt und pflegt. Woanders als in der Schule gearbeitet zu haben, nebenher etwas zu tun, was einen wirklich interessiert, mit Lust und Frust einer Faszination nachzugehen, erschienen uns dafür wichtige Hilfsmittel zu sein.

Entdeckendes und Politisches Lernen nach oben

Margret warf schließlich die Frage auf, ob Entdeckendes gleichzeitig auch Politisches Lernen sei. Die Aspekte von persönlicher Sinnsuche, kontemplativer Betrachtung, kreativer Verwirrung und unendlicher Prozesshaftigkeit ließen da offensichtlich - und sicher nicht nur bei ihr - Zweifel aufkommen. Stan und ich erzählten davon, dass uns aus der Erfahrung der eigenen Erkenntnis- und Handlungsfähigkeit auch ein hohes Maß an Durchsetzungsfähigkeit im engeren politischen Sinn erwachsen sei. Angst, Panik und damit verbundene Neigung zu Aggressivität hätten abgenommen, dafür seien wir bereit, ein höheres Maß an Unterschiedlichkeit zu akzeptieren und unseren Standpunkt in der Auseinandersetzung weiter zu entwickeln. Ob das für den Umgang mit Gegnern förderlich oder hinderlich sei, bleibe dahingestellt...