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Karin Ernst

Den Fragen der Kinder Raum geben
Auszüge aus einem Interview mit Lillian Weber im April 1993

Gekürzt veröffentlicht in:
Die Grundschulzeitschrift 86/1996, S. 40-45.
© Karin Ernst 1996, 2001


Zur Person und Bedeutung Lillian Webers
Zur Art des Interviews
Ausschnitte aus dem Interview

Grundüberzeugungen
Erste Anfänge
Wandlungen
Ein Beispiel für Beratung am Arbeitsplatz
Schwierigkeiten der veränderten Lehrerrolle
Was Lernwerkstätten tun können
Schlusssatz
Weiterführende Literatur

Zur Person und Bedeutung Lillian Webers nach oben

Lillian Weber (1917 - 1994) gehört zu den einflußreichsten Persönlichkeiten der amerikanischen Grundschulreform. Nach einem Studium der Soziologie und vielfältigen Aktivitäten in der frühen Bürgerrechtsbewegung brachte sie erst die Kindergartenerziehung ihrer beiden Söhne mit professioneller pädagogischer Tätigkeit in Berührung. Inzwischen Leiterin des Kindergartens geworden, in dem sie einst als pädagogisch interessierte Mutter mitzuarbeiten begonnen hatte, lernte sie in den frühen 60er Jahren auf Fachkonferenzen in den USA englische Kindergartenleiterinnen kennen, die ausführlich über den englischen Ansatz der "Informal Education" berichteten. Was sie dort hörte, begeisterte sie so, daß sie - inzwischen immerhin fast 50 Jahre alt -, ihre Stellung aufgab und mit einem Forschungsstipendium nach England ging, um Theorie und Praxis der Informellen Erziehung vor Ort zu studieren und auf die Übertragbarkeit in die amerikanischen Verhältnisse hin zu überprüfen. Ihr Forschungsbericht, 1971 als Buch "The English Infant School and Informal Education" erschienen, wurde zum Bestseller und bildete zusammen mit illustrierendem Filmmaterial und Vorträgen eine solide inhaltliche Grundlage für das vielerorts erwachte Reforminteresse in den USA.

Lillian Weber wurde nach ihrer Rückkehr aus England 1967 als Professorin für Grundschulpädagogik an das New Yorker City College berufen. Da es ihr Ziel war, LehrerInnen für eine veränderte Schule auszubilden, eine entsprechende Praxis aber noch nicht vorfindbar war, begann sie 1968 mit dem Projekt "Open Corridor" an einer Harlemer Grundschule. Auf dem Flur wurde für 5 Klassen, deren Lehrerinnen an einer Mitarbeit interessiert waren, eine materialreiche, lebendige Lernumgebung geschaffen, in der für einen begrenzten Zeitraum aus jeder Klasse jeweils 5 Kinder arbeiten konnten. Hier "erfand" Lillian Weber zusammen mit den Unterrichtspraktikantinnen des City College und den zwischen Skepsis und Neugier schwankenden Lehrerinnen den Offenen Unterricht unter New Yorker Bedingungen neu. Ihre langjährige Unterrichtserfahrung mit kleineren Kindern kam ihr dabei ebenso zugute wie, wie sie selbst immer wieder betonte, ihr sichtbares Alter und ihre Lebenserfahrung. Noch während der Versuch "Open Corridor" im ersten Jahr lief, ersuchten Eltern und LehrerInnen anderer New Yorker Schulen, die sich im Streik um bessere Lernbedingungen befanden, Lillian Weber um Unterstützung von Reformen. Lillian gelang es, relativ schnell mit Hilfe von Stiftungsgeldern den "City College Advisory Service to Open Corridors" aufzubauen, der über 10 Jahre interessierte LehrerInnen und Schulen durch vor Ort tätige BeraterInnen bei der Öffnung des Unterrichts unterstützte. Als Treffpunkt, Arbeitsplatz und Fortbildungsort wurde 1972 das "Workshop Center for Open Education" gegründet, das heute fester Bestandteil der Lehrerausbildung am City College ist.

Die Arbeit des Workshop Center unter der Leitung von Lillian Weber wurde möglicherweise aus folgenden Gründen zum wichtigsten Anziehungspunkt der Reformbestrebungen:

Offener Unterricht ist durch die Reformbestrebungen der 60er und 70er Jahre keinesfalls zu der Unterrichtsform in den USA geworden. Trotzdem sind die einzelnen Reformkerne in den Zeiten politischer und finanzieller Restriktionen erhalten geblieben und haben ihre Arbeit intensivieren können. Dadurch ist zwar keine Breitenwirkung entstanden, aber ein Schatz an Erfahrungen, Forschungsergebnissen und Literatur, der in Deutschland weitgehend unbekannt ist.

In den letzten 10 Jahren hat als Reaktion auf breit angelegte Untersuchungen, in denen das Bildungswesen der USA heftig kritisiert wurde, eine neue Reformbewegung eingesetzt, in der die "alte" Bewegung eine gewichtige Stimme hat. Wieder, wie zu Beginn der 60er Jahre, steht die naturwissenschaftliche Bildung im Mittelpunkt. Anders als damals geht es jedoch darum, einen Bildungsbegriff zugrunde zu legen, der konsequent auf einer Neuformulierung von Entdeckendem Lernen ("Inquiry") beruht. Lillian Weber hat diese Entwicklung vorausgesehen und befördert, u.a., indem sie als ihren Nachfolger im Workshop Center einen der profiliertesten Vertreter dieser Denkrichtung berufen ließ, den Afrikaner Hubert Dyasi.

Für mich war die pädagogische Philosophie Lillian Webers in Verbindung mit ihrer erlebbaren Veränderungspraxis in den vergangenen Jahren von immenser Bedeutung. Einige ihrer grundlegenden Aussagen, wie sie in diesem Interview formuliert wurden, würde ich gerne mit anderen teilen.

Zur Art des Interviews:

Lillian Weber hat gerne und ausführlich erzählt und dabei grundlegende Einsichten mit illustrierenden und leicht nachvollziehbaren Alltagsbeispielen verwoben. Oft führte sie beim Reden neue Gedanken aus, die sie gerade beschäftigten. Deshalb konnte man ihr immer gut zuhören, durfte sie aber nur ungern unterbrechen. Das "Interview" folgte ganz diesem Stil. Als Fragerin habe ich zu Beginn folgende drei Themenkomplexe skizziert

und danach nur gelegentlich kommentiert oder an die zu verhandelnden Fragen erinnert.

Lillian Weber konnte dieses Interview nicht mehr selbst redigieren, da sie im Februar 1994 gestorben ist. Ich habe deshalb in eigener Verantwortung aus dem gesamten Text (Gesprächsdauer 3 1/2 Stunden) Passagen ausgewählt, die mir für die deutsche Diskussion anregend erscheinen und die gleichzeitig Lillians Art, praxisbezogen zu denken, wiedergeben.

Ausschnitte aus dem Interview nach oben

Grundüberzeugungennach oben

Lillian Weber: "Die Frage, was "Offenen Unterricht" ausmacht, wie sich die Konzeption in den USA im Laufe der Jahre verändert hat, ist schwer für mich zu beantworten, denn ich habe diesen Begriff nicht in die Welt gesetzt, das ist eher ein zufälliger Name. Natürlich wollte ich so etwas wie "Öffnung". Eine bessere Bezeichnung wäre vielleicht "Zugänglichkeit". Ich wollte, daß die Kinder Zugang zu ihrer Umgebung bekamen, zu den vielen Dingen, die sie darin erkunden konnten. Ich wollte infolgedessen keine leeren Klassenräume, in denen der Lehrer oder die Lehrerin ein paar Materialien austeilt, die die Kinder vielleicht für 15 Minuten anschauen dürfen, bevor sie wieder weggeschlossen werden. Ich wollte, daß die Klassenräume sich ein wenig zur Welt hin öffnen, zur Realität der vielen Dinge in ihr. Ich wollte ein Höchstmaß an Interaktion zwischen den Kindern als Vehikel des Denkens. Und deshalb sollten die Kindern füreinander offen sein, Interesse aneinander haben dürfen. Ich wollte nicht, daß die Kinder hinter ihren Pulten isoliert sind und bestraft werden, wenn sie miteinander reden oder mal den Kopf herumdrehen, und ich wollte auch nicht, daß sie im Klassenraum eingesperrt sind. Darum war es mir wichtig, daß Kinder und Lehrer die Schule als ganze nutzen, daß die Vorstellung der "Lernumgebung" die gesamte Schule durchdringt. Es sollte gute Gründe dafür gehen, in die Flure hinauszugehen - vielleicht gab es dort Aquarien zum Ansehen, oder vielleicht war der kleine Bruder in einer anderen Klasse, oder es gingen interessante Dinge am anderen Ende des Gebäudes vor. Die Flure sollten Verbindungen zwischen den einzelnen Ereignissen in der Schule schaffen und nicht nur dafür da sein, um schnell in der Klasse zu verschwinden oder höchstens mal auf die Toilette zu gehen. Es ging mir um die Erkundung der Welt - dazu gehörte auch, den Eltern zu ermöglichen, mal einen Blick in die Klasse ihres Kindes zu werfen. Das Herauslösen der Kinder aus ihrer Umgebung - die Klassentür gegenüber allen fremden Einflüssen zu verschließen, so daß Du als Lehrerin allein sie beeinflussen konntest - erschien mir wie ein fast krankhaftes Streben nach Macht; das Ablehnen jeder Art von Unterbrechung des Unterrichts hatte etwas Verrücktes für mich.

Als ich anfing, kam es mir zugute, daß das ganze Land in Aufbruchstimmung war, daß es eine vielfältige Suche nach Veränderungen gab. Was ich in diese Situation einbrachte, war die Überzeugung, daß Veränderungen möglich waren, und daß ich mein bestes geben würde, um sie zu erproben.

Meine ersten Anfänge waren minimal, aber wie auch immer - zur gleichen Zeit brachen Forderungen nach "freien" Schulen auf. "Frei" verwies auf Freiheit im Denken und Fühlen. Herbert Kohl und andere nannten dies "offen", daraus wurden "offene Schulen". Der Gebrauch des Begriffs "Offener Unterricht" war damals also eng mit gesellschaftlichem Protest verknüpft, - "offen" meinte "frei", den Bindungen der formalen Schulstruktur und ihren Regeln entkommen zu sein, die Regeln nun selbst machen zu können. Das hatte ganz offensichtlich nichts mit der Veränderung der öffentlichen Schule zu tun. Es wurde zu einem Unternehmen der Mittelklasse, sich die Lebensverhältnisse neu zu schaffen, während ich Veränderungen innerhalb des bestehenden Systems wollte, in den öffentlichen Schulen im Ghetto. Ich wollte zu der Zeit nur "offene Flure" (open corridors) aufbauen - neue Lernumgebungen in den Schulfluren schaffen, zu denen hin die Klassentüren offen standen, so daß die Art und Weise, wie ich im Flur mit den Kindern arbeitete, von den Klassen aus beobachtet werden und die Lehrerinnen die ein oder andere Idee selbst ausprobieren konnten.

Da gibt es also einen kleinen Unterschied. Ich habe niemals eine Bewegung für Offenen Unterricht in Gang gesetzt. Ich versuchte demgegenüber, zu "informalisieren", - die Beziehungen sollten informeller werden und gleichzeitig sollte es Zugang zu etwas ganz Wichtigem geben: zu Menschen. Zueinander als Menschen, zu Eltern als Menschen, zu Lehrern als Menschen, zu Verwaltungsleuten als Menschen. Und vor allem wollte ich, daß die Kinder Zugang zur ganzen Fülle der Welt bekommen sollten. Außerdem hatte ich daß Gefühl, daß, was ich auch immer in Gang setzte, so wenig kosten durfte und so wenig Aufwand erfordern würde, daß jeder, der’s kapiert hatte, es nachmachen konnte. Ich wollte nicht, daß gute Sachen nur in den Schulen passierten, die das Geld dafür hatten oder wo die Eltern sich finanziell besonders engagierten. Das hätte bedeutet, die Armen noch ärmer zu machen. Denn der Wind war für alle Kinder da, ebenso der Zyklus von Tag und Nacht, der Schatten, die Temperatur - all das existierte für alle Kinder. Was fehlte, war die Sensibilität der Lehrer dafür, daß solche alltäglichen Phänomene für alle in Reichweite waren."

Erste Anfänge nach oben

Das "Open Corridor Program" begann 1968 an einer Harlemer Grundschule. Fünf Lehrerinnen, die mutig genug waren, sich auf etwas Neues einzulassen, zogen mit ihren Klassen in benachbarte Räume. Auf dem Flur richtete Lillian Weber zusammen mit den Studentinnen, die sie am City College ausbildete, mit wenigem gespendeten Material eine "anregende Lernumgebung" nach englischem Vorbild ein. Jeweils fünf Kinder aus den fünf Klassen konnten hier für einen Teil des Vormittags oder Nachmittags mit Lillian Weber als Modell-Lehrerin arbeiten. Da sich die Kinder abwechselten, war es nötig, die jeweiligen Arbeiten gut zu dokumentieren und auszustellen, so daß die nächste Gruppe nachlesen konnte, was passiert war - sinnvolle Anlässe für Lesen, Schreiben und Kommunikation jenseits des üblichen Unterrichtsdrills. Die Lehrerinnen warfen gelegentlich einen Blick auf das Geschehen, begannen wahrzunehmen, daß die Kinder - insbesondere die "schwierigen" - sich dort besser entwickelten, und übernahmen vorsichtig die eine oder andere Idee. Als Illustration für die kleinen Schritte des Anfangs zwei Beispiele:

Lillian Weber: "Ich fragte die Lehrerinnen am Anfang etwas, was sie noch nie jemand gefragt hatte, nämlich, was sie selbst gerne tun würden. Sie waren so in der Vorstellung gefangen, daß sie "den" Rahmenplan durchnehmen mußten, daß sie nicht einmal wußten, wie sie darauf antworten sollten. Also fragte ich weiter: ‘Was tut Ihr denn gerne zu Hause? Kocht Ihr gerne?’ - Naja, auf diese Weise haben wir einen Teil der ersten Geldspende, die wir erhalten haben, ausgegeben: wir haben einen Herd angeschafft, den sie mit ihren Klassen benutzen konnten."

"Und eine andere Kleinigkeit: Auf dem absolut öden, betonierten Schulhof gab es gar nichts - nur ein paar Robinien, diese Bäume mit den langen, bohnenähnlichen Schoten. Ich grübelte darüber nach, wie ich etwas gegen die übliche Einschätzung dieser Kinder tun konnte, gegen dieses ‘ach, die Kinder kommen doch aus Harlem, die wissen doch nicht, wie man mit Pflanzen umgeht.’ Angesichts solcher Argumente sagte ich oft: ‘Vielleicht stellt es sich heraus, daß die Kinder eine Menge wissen, was Euch bisher noch nicht aufgefallen ist. Wenn ich da, wo ich wohne, am Hudson River spazieren gehe, sehe ich zum Beispiel oft Leute, wahrscheinlich aus Harlem, die mit ihren Kindern oder Enkelkindern nach Aalen oder Krabben fischen. Außerdem haben diese Kinder große Erfahrung im Reisen, ein- oder zweimal im Jahr werden sie in die Südstaaten geschickt, um ihre Großeltern oder Tanten zu besuchen.’ Nun gut - wir redeten mit den Kindern über die Bäume, und ein Junge fragte mich: ‘Willst Du ein paar von den langen Dingern haben?’ - ‘Ja, würde ich gerne!" - Er ging raus und holte mir welche. Das war wahrscheinlich das erste Mal in dieser Schule - vielleicht überhaupt in einer New Yorker Schule -, daß ein Kind ganz allein auf den Schulhof gelaufen und wiedergekommen ist. In England hatte ich ein ständiges Rein-und-Raus beobachten können. Es gehörte zu meinem Konzept, Kindern dazu die Möglichkeit zu geben, um die unglaublich starren Wände der Schule aufzubrechen, um die Risse zu finden, die eine Möglichkeit dazu boten.

Ich sorgte für einen großen Blumenkasten, und der Junge pflanzte ein paar Samen ein. Bald sah es ganz wunderbar aus - die kleinen Pflanzen hatten von Anfang an die richtigen Sorte Blätter, sie sahen wie Baby-Robinien aus, es war wie ein kleiner Wald, ganz toll. Und ich sagte zu dem Jungen: ‘Weißt Du, die Kinder in der Vorschule haben so etwas gar nicht, sie sind wohl auch nicht groß genug, um so wie Du die Schoten vom Baum zu holen.’ Er sagte: ‘Dann schenke ich ihnen welche.’ Aus solchen Kleinigkeiten entwickelte sich ein gewisses Hin-und-Her, die Kinder durften in andere Klassen gehen, um etwas Interessantes zu zeigen oder ein paar Kinder in die eigene Klasse einzuladen, weil es da etwas zu sehen gab."

Wandlungen nach oben

Der "Open Corridor" war kaum ein halbes Jahr in Gang, als eine große Streikwelle unter New Yorker LehrerInnen und Eltern für bessere Bildung und Veränderung der Schule ihn bereits zum Modell für andere Schulen werden ließ. Lillian Weber wurde eingeladen, Veränderungen an anderen Schulen durch Beratung zu unterstützen. Mit Forschungsgeldern aus verschiedenen Quellen wurde der "City College Advisory Service to Open Corridors" aufgebaut. Der Advisory Service arbeitete als Handlungsforschungsprojekt, in dem situationsadäquate Veränderungen vorgeschlagen, erprobt, dokumentiert, reflektiert, besser verstanden und revidiert wurden. Um einen Treffpunkt zu schaffen, wo die BeraterInnen selbst Neues erproben und Fortbildung für ihre Gruppen betreiben konnten, wurde 1972 das "Workshop Center for Open Education" nach dem Vorbild englischer Teachers' Centers eröffnet. In den nächsten 10 Jahren wurden mehr als 30 Schulen in New York durch den Beratungsdienst unterstützt. Ebenso wichtig war jedoch die Verbreitung des veränderten Unterrichts durch die AbsolventInnen des City College, die als junge LehrerInnen mit neuen Ideen in die Schulen kamen.

Lillian Weber: "Was ich vor allem wollte, war, die zentrale Rolle der Lehrerinnen im Unterricht aufzubrechen. Ich sorgte für sanfte Unterbrechungen dieser totalen Kontrolle, schlug beispielsweise vor, daß ein Kind, daß seine Testaufgaben bereits erledigt hatte, den Kindern in der Vorschule eine Geschichte vorlesen ging oder von einem neuen Buch erzählte. Die Kinder kamen auf diese Weise viel mehr in Bewegung, machten Botengänge, luden Kinder aus anderen Klassen ein, usw., ohne daß die Grenzen der Disziplin überschritten wurden oder die Lehrerinnen gegen ihren Willen mit solchen Aktivitäten belästigt worden wären. Die Lehrerinnen merkten, daß ich keine großen Erschütterungen in die Schule brachte. Vielleicht sammelte ich auf dem Weg zur Schule ein paar Blätter, oder hob ein paar Kieselsteine auf, oder ich kam in die Klasse und sagte: ‘Auf dem Weg hierher mußte ich meinen Schal ganz fest halten. Was meint Ihr wohl, warum? Weil der Wind so stark bläst.’ Ein Kind hatte das inzwischen vielleicht auch schon vermutet, und ich sagte weiter: ‘Vielleicht läßt Eure Lehrerin zwei oder drei von Euch mit mir rauskommen, dann können wir den Wind fühlen und den anderen davon mehr erzählen’ - oder so ähnlich.

Auf diese Weise wurde der Unterricht Stückchen für Stückchen ‘offener’ - offen im Sinne von Zugänglichkeit zur Vielfalt der Welt und größerer Interaktion untereinander. Das hatte nichts damit zu tun, daß die Kinder nun mehr ‘Spaß’ hatten. Es ging um die Anerkennung der Tatsache, daß Lernen nicht für alle Kinder im selben Gleichmaß verläuft, darum, daß die Kinder sich alle voneinander unterscheiden."

Doch verliefen diese Veränderungen nicht bruchlos und konfliktfrei, auch war Lillian Weber ja nicht die einzige treibende Kraft bei der Öffnung des Unterrichts in den USA. Lillian Weber berichtet:

Lillian Weber: "Zu jener Zeit war das Buch von Mary Brown und Norman Precious erschienen, in dem außerordentlich reichhaltig ausgestattete Klassenräume in England beschrieben wurden. Die Lehrerinnen und Lehrer, die nun an den anderen Schulen mit der Öffnung des Unterrichts beginnen wollten, glaubten, daß es nur mit einer solchen Ausstattung ginge - sie begriffen meinen Standpunkt nicht ganz, daß man Veränderungen am besten mit dem beginnt, was man hat. Sehr schnell kam es zu einer gewissen Abgrenzung innerhalb der Bewegung - ‘Wir sind gut, wir sind die Experten. Wir haben all diese tollen Sachen in unseren Klassen.’ - und damit auch zu einer gewissen Verachtung der anderen, die dies nicht hatten.

Sie waren stolz auf ihre Kreativität, auf die vielen Ideen, die sie nun entwickeln konnten, und das war ganz natürlich, denn dies war zuvor vollkommen unterdrückt worden. Jetzt konnten sie endlich Projekte realisieren, von denen sie immer geträumt hatten. Aber nun war es nötig, zu diskutieren, in wessen Interesse diese Reformen eigentlich erfolgen sollten. Ich mußte immer wieder darauf hinweisen, daß das Interesse der Kinder, ihre Erfahrungen mit der Welt einzubringen, in der Schule als vollkommen unwichtig betrachtet wurde. Auch glaubten sie nicht, daß man den Kindern zutrauen konnte, mit den Materialien sorgsam umzugehen.

Schon bald gewann für die Lehrerinnen das Interesse an der Entwicklung und Ausgestaltung ihres eigenen Klassenraums viel mehr an Gewicht als der Aspekt der Gemeinschaft und der Zusammenarbeit innerhalb der Schule. Mir ging es nicht darum, die Kreativität der Lehrerinnen zu unterdrücken und nur die Interessen der Kinder in den Mittelpunkt zu stellen, aber ich wies immer wieder darauf hin, daß es um das Austauschen und Teilen von Interessen ging.

Alles in allem war es für uns alle eine ungeheure Lernerfahrung - welche Fragen sich stellen würden, konnten wir nicht von Anfang an voraussagen."

Bei Vorträgen: "Das ganze ist keine Frage des Geldes, es ist eine Frage Eurer Vorstellungskraft und Eurer Bereitschaft. Das heißt nicht, daß Ihr nicht auch ein bißchen Geld braucht, aber keins zu haben, ist kein Grund, herkömmlich zu unterrichten. Selbst wenn ich keinen Pfennig hätte, würde ich es nicht tun, weil es zu steril ist. Wenn Ihr meint, daß ein Kind im anregenden Kontext der Welt als ganzer lernt, dann sollte wenigstens etwas davon auch in Euren Klassen zu finden sein. Oder Ihr solltet wenigstens Interesse zeigen, wenn die Kinder Euch etwas erzählen, was dort draußen vorgeht. Bildung heißt nicht, das ABC aufsagen zu können. Bildung heißt, die Welt zu verstehen, sich selbst und andere zu verstehen, die Beziehungen in der Welt, in ihrer Geschichte und Gegenwart. Daran gibt es keinen Weg vorbei. Die Frage ist nur, wieviel man davon in Gang setzen kann. Und auch kleine Anfänge haben große Bedeutung, geben Euch Kraft, ermutigen Euch und die Kinder. Und die Kinder werden es sich zu eigen machen, und es wird auch viel weniger Störungen geben."

"Aber es blieb die Frage, in wessen Interesse die Veränderungen eigentlich vorangetrieben werden. Wenn die Lehrerinnen aus ihrer eigenen Kreativität großen Gewinn zogen - nützte das den Kindern oder nicht? Ich mußte den Lehrerinnen zu zeigen versuchen, daß diese Art von Arbeit nicht bedeutete, daß sie von der Bildfläche verschwanden, daß ihre Kreativität im Rahmen unserer gemeinsamen Bestrebungen wirksam werden konnte, daß es dann keine isolierte Kreativität mehr sein würde. Aber diese Frage ist eigentlich bis heute offen geblieben, ich habe erst vor kurzem wieder darüber geschrieben."

Im Zuge der Finanzkrise New Yorks 1975 zeigte sich noch ein anderes Problem: Als nahezu 18.000 Lehrerinnen und Lehrer entlassen oder umgesetzt wurden, traf es, weil ältere LehrerInnen in Bezug auf die Arbeitsplatzsicherheit Vorrang hatten, besonders die jungen Lehrerinnen, die als Absolventinnen des City College neue Ideen in die Schulen gebracht hatten, bzw. ihre praktische Ausbildung in gut funktionierenden offenen Klassenzimmern absolviert hatten. Viele von ihnen waren angesichts des traditionellen Unterrichts in den neuen Schulen, an denen sie sich nun wiederfanden, verzweifelt.

Lillian Weber: "Zu Anfang war das Jammern groß. Wochenlang fuhr ich von Schule zu Schule, um mir die Klagen über die schreckliche neue Situation anzuhören. Aber ich mußte auch daran erinnern, daß wir vor nicht allzu langer Zeit in einer ähnlichen Situation mit Nichts angefangen hatten. Ich zeigte ihnen wieder diese simplen Anfänge - konkrete Mathematik mit Murmeln, Knöpfen, Bohnen, Rosinen; einfache Differenzierungsformen, indem man mit dem Material, das auch die traditionellste Schule hat - Papier und Buntstifte -, ein paar Kinder Bilder malen läßt, während andere lesen.

Aber mir wurde klar, daß wir hier auf einen schwachen Punkt in unserer Veränderungsstrategie stießen. Wir mußten den jungen Lehrerinnen begreiflich machen, daß die großartige Unterrichtssituation, in die sie vorher gekommen waren, die ihnen so gut gefallen hatte, nicht durch Zauberei entstanden war, daß jemand anderes sie aktiv entwickelt hatte. Wir mußten sie mehr als bisher mit der Geschichte der Reform konfrontieren. Sie mußten erfahren, daß Veränderungen möglich waren, daß ganz normale Menschen, nicht mal besonders talentierte Menschen, sie in Gang gesetzt hatten, weil sie diese Veränderungen wollten, und daß sie dies auch tun konnten."

Ein Beispiel für Beratung am Arbeitsplatz nach oben

Während Lillian Weber in ihrem ersten Projekt selbst als Modell-Lehrerin Veränderungen erprobte, war sie in allen späteren Situationen mit im Unterricht anwesend und zeigte in der Praxis neue Verhaltensmöglichkeiten durch Kommentare oder Arbeit mit einzelnen Kindern oder Kindergruppen auf, für die sie in der Diskussion dann umfassendere Perspektiven eröffnete. Praktische Demonstration, verbunden auch mit eigenem Experiment, und Theorie waren ständig aufeinander bezogen, jedes Beispiel war transferfähig, stand für eine größere Perspektive.

Lillian Weber: "Zum Beispiel fragte ich die Lehrerin meist, wenn ich in die Klasse kam, welches Kind ihr gerade am meisten Schwierigkeiten machte. ‘Heute scheint So-und-so von nichts ‘ne Ahnung zu haben!’ Solche Globalismen versuchte ich immer, in die Schranken zu weisen. Manchmal kam ich mir schon blöd vor, wenn ich immer wieder sagte: ‘Was? Er weiß gar nichts? Er ist doch in die Schule gekommen, kann laufen, kann sprechen - oder?’ Was die Lehrerin natürlich meinte, war, daß er nichts von dem behielt, was sie ihm beibringen sollte. Meistens lächelte ich dann vage und ging zu dem fraglichen Kind hin - vielleicht konnte es ja wirklich nicht lesen oder hatte keinen Sinn für Laute, oder so. Ich ging also hin, bewunderte etwas, was er tat, und fragte: ‘Hast Du eigentlich Geschwister?’ Und er sagte: ‘Ja, und sie haben den selben Namen wie ich.’ - ‘Na so was’, sagte ich, und wie heißt Du?’ Er sagte: ‘Emili-o. Und mein Bruder heißt Albert-o.’ Ich schrieb die beiden Namen auf: ‘Emilio’, ‘Alberto’, und ging dann zur Lehrerin ‘rüber. ‘Ich denke, Emilio kann Laute ganz gut unterschieden, es ist doch interessant, daß er das kann. Vielleicht stellt sich ja heraus, daß er doch noch ein bißchen mehr kann’, erzählte ich ihr. ‘Aber wie soll ich denn bei 30 Kindern jedem auf der Spur bleiben!’ war meist die Antwort. Ich diskutierte also mit ihr, wie sie, nachdem sie den Schuljahresbeginn hinter sich hatte und die Kinder sich in der neuen Lernumgebung auskannten, jeden Tag fünf oder sechs Kinder genauer beobachten konnten, um sie wirklich kennenzulernen.

Als ich das nächste Mal in Emilios Klasse kam, rannte Emilio gleich auf mich zu. - Offensichtlich bekamen die Kinder von der Lehrerin so wenig persönliche Aufmerksamkeit, daß er sich an mich auch noch nach zwei Wochen erinnerte. - ‘Weißt Du noch, daß ich Dir von Alberto erzählt habe? Er ist sechs Monate alt,’ erzählte er mir. ‘Das ist ja toll! Kannst Du denn die 6 schreiben? Dann könnten wir nämlich eine Geschichte über Deine Familie schreiben,’ sagte ich. Er konnte es und schrieb die 6 auf. Falls nicht, hätte ich für ihn geschrieben. Er erzählte mir noch mehr über die Familie, und ich schrieb es auf. Ich gab ihm das Blatt und sagte: ‘Das wird Dein Spezial-Buch über Deine Familie. Wenn wieder was wichtiges ‘rein soll, erzählst Du es mir, und wir schreiben es auf.’

Ich erlebte dies immer wieder: wenn ich mit einem Kind ein persönliches Gespräch geführt hatte, kam es noch nach Monaten zu mir gelaufen und erinnerte mich an die ganze Geschichte. Deshalb gab ich den Lehrerinnen den Rat: ‘So weit ich sehe, ist es für die Kinder außerordentlich wichtig, daß ihr ihnen vielleicht ein oder zweimal im Schulhalbjahr für eine halbe Stunde ungeteilte Aufmerksamkeit widmet, so daß sie wissen, daß sie für Euch wirklich existieren, daß Ihr wißt, was ihnen wichtig ist. Eine halbe Stunde ist nicht viel - da bleibt genug Zeit für die üblichen schulischen Dinge übrig. Außerdem wenigstens eine wirklich wichtige Begebenheit, die Ihr mit dem Kind zusammen aufschreibt - vielleicht entwickelt sich daraus ein besserer Weg, lesen und schreiben zu lernen, als Ihr ihn jetzt eingeschlagen habt.’ - Das waren komplizierte Fragen, mit denen wir uns auseinandersetzten. Sie tauchten erst nach und nach auf, und erst mit der Zeit gelang es uns, sie zu einem besseren Gesamtverständnis der neuen Situation zu entwickeln."

Schwierigkeiten der veränderten Lehrerrolle nach oben

Lillian Weber: "Eine der großen Fragen, auf die ich in meiner Arbeit immer wieder stieß, und die bis heute nicht zureichend beantwortet ist, ist die Frage, welche Rolle die Lehrer eigentlich in Bezug auf die Kinder haben. Es wurde mir immer klarer, daß LehrerInnen in erster Linie unterrichten wollen, und daß es vielen von ihnen schwer fällt, mit den Kindern in respektvoller Weise zusammenzuarbeiten oder die Sichtweise der Kinder voller Interesse anzuerkennen. Ich habe das einerseits immer akzeptiert, und andererseits versucht, diesen Entwurf vom Lehrersein um neue Perspektiven zu erweitern, Perspektiven, die sie nicht abwerten, sondern auf die eine oder andere Weise beflügeln. Viele fühlen sich nun mal abgewertet, wenn sie nicht im klassischen Sinne die Kinder belehren.

Unglücklich ist an dieser Beziehungsstruktur zwischen Lehrern und Kindern, daß den Kindern hierbei etwas Entscheidendes fehlt, und daß dies den Lehrern gar nicht auffällt, sie deshalb darüber auch nie nachdenken oder dafür kämpfen. Es geht um das Problem, auf welche Weise ein Kind eigentlich eine Bestätigung für seine Kontinuität als Person erhält. Daß ein Kind eine Identität hat, daß es als Person so akzeptiert wird, wie es ist, spielt in der Schule kaum eine Rolle. Die Frage der Unterstützung von menschlicher Entwicklung im familiären Lebenszusammenhang wurde mir immer wichtiger - nicht nur als Aufgreifen des spielerischen Lernens aus der Vorschulzeit in der Schule.

Wenn man das Aufwachsen in der Familie nicht aus der Betroffenheit als Lehrerin, sondern mit einer gewissen Distanz betrachtet, wird deutlicher, was das bedeutet. Man beginnt die Verschiedenheit der Kinder, die gemischte Zusammensetzung der Klassen eher zu würdigen, wird toleranter. Aber den Reichtum zu würdigen, den Kinder in eine Situation einbringen, wenn sie aus ihren unterschiedlichen Perspektiven dazu beitragen, erfordert mehr als dies einfach hinzunehmen. Die Einteilung von Kindern in Klassenstufen, das Versagen - all das wird dann fraglich. Wenn ein Kind mit seinen Charakterzügen bisher zurecht gekommen ist - in welcher Hinsicht ist es dann ein Versager? Es geht um die Frage der bedingungslosen Unterstützung kindlicher Entwicklung. Viele wenden an diesem Punkt ein, daß ein Kind für das Leben in der Gesellschaft nun mal bestimmte Qualifikationen braucht. Aber die Annahme, daß ein Kind daran nicht interessiert sei, ist im Grunde falsch. Das Kind lebt bereits in der Gesellschaft, natürlich ist es an ihr interessiert. Es geht nicht darum, daß Ihr als Lehrerinnen den Kindern dies aufzwingen müßt, weil es von allein niemals motiviert wäre. Vielmehr geht es darum, daß Kinder und Eltern ebenfalls ein Gefühl der Kontrolle über die Situation bekommen. Bildung darf nicht allein von den LehrerInnen kontrolliert werden - sonst bekommt man keine Zustimmung zum Lernen. Und man braucht nicht nur das Einverständnis der Lehrerin, daß das, was ein Kind tut, interessant ist, auch das Kind muß zustimmen, daß das, was die Lehrerin tut, interessant ist.

Hier tritt jedoch eine enorme Schwäche zutage. Wie würde ein Kind eigentlich die Tätigkeit der Lehrer in der Schule definieren? Es ist sich nicht klar darüber, und deshalb spielen Kinder, wenn sie Schule spielen, häufig eine archetypische Situation nach, die sie so nie erlebt haben mögen. Die Kontrolle wird darin überwältigend, weil sie Kontrolle als Lehrertätigkeit zu allererst wahrnehmen, auch wenn sie in netter Form erfolgt. Im wirklichen Leben lernen Kinder von Erwachsenen auf ganz andere Weise - sie beobachten sie beispielsweise. Es passiert alles mögliche: ein Bus fährt vorbei, da gibt es jemanden, der ihn fährt, das Kind beobachtet ihn, oder es sieht, was der Klempner tut, und es erfährt etwas über die Tätigkeiten von Erwachsenen, selbst wenn es dann noch nicht selbst den Bus fahren kann, oder so. LehrerInnen hingegen scheinen keine Erwachsenen zu sein, die an etwas Interesse haben, etwas gut können - sie erscheinen als Menschen, die Kinder beaufsichtigen und zu etwas ‘kriegen’. Das ist eine ausgesprochen unklare Rolle, denn Kinder finden nicht so recht heraus, wie das eigentlich vor sich geht. In der Beziehung zwischen Lehrern und Kindern müßte die "Sache", um die es beiden gemeinsam geht, klarer werden. Kinder müßten erfahren können, daß Lehrer wirklich etwas wissen, und dann bei ihnen sozusagen in die Lehre gehen.

Aber selbst von den einfacheren Aspekten der Lehrertätigkeit weiß ein Kind nichts - daß LehrerInnen Zeugnisse und Berichte schreiben, daß Stunden vorbereitet werden müssen, daß Material besorgt werden muß, usw. Die LehrerInnen wollen keine Minute der kostbaren Unterrichtszeit verschwenden, deshalb wird den Kindern die Situation fertig präsentiert, sie werden in die Vorbereitungsarbeit nicht einbezogen. In der Familie kommt so etwas nicht vor, es gibt immer Arbeiten, an der die Kinder beteiligt werden. Und auch außerhalb der Familie beobachten Kinder Erwachsene, werden neugierig, fragen sie, werden vielleicht in das eine oder andere einbezogen. Das ist einfach so in einer Welt, in der viele Generationen zusammen leben. Aus diesen eher peripheren, zufälligen Kontakten zwischen Kindern und Erwachsenen kann ein ungeheures Maß an Lernen erwachsen. Die wichtigsten Dinge im Leben werden vielleicht ganz anders gelernt als in einem auf Effektivität und Tests ausgerichteten Unterricht. Es geht dabei viel langsamer, ungleichmäßiger, zufälliger zu.

Für den Unterricht könnte das bedeuten, daß etwas, das ein Kind dort draußen erkundet hat, im Klassenraum fortgesetzt werden kann, daß es dabei in die Tiefe gehen kann, dabei mehr Zeit hat, es komplizierter oder vielleicht auch einfacher wird, als bei der zufälligen Begegnung. Und das bedeutet wiederum, daß in der Klasse viele Interessen nebeneinander existieren, und dies in Ordnung ist, man miteinander darüber ins Gespräch kommen kann.

Aber all die Aspekte informelleren Lernens stehen der üblichen Auffassung vom Lehrerberuf diametral entgegen."

Was Lernwerkstätten tun können nach oben

Lillian Weber: "Wenn sich daran etwas ändern soll, müssen Lehrerinnen und Lehrer vor allem wieder erfahren, wie sie selbst wirklich gelernt haben und noch lernen - das ist der Kern unserer Arbeit im Workshop Center. Daß man sich anderen anschließen kann, die an einer interessanten Frage arbeiten, ohne von ihnen belehrt zu werden. Daß die Menschen, mit denen man dort zusammen ist, auf ganz unterschiedliche Weise lernen. Daß Lernen ein Prozeß ist, der immer weiter geht. Das muß einem in Fleisch und Blut übergehen, dafür muß man ein Gefühl entwickeln - wie die Dinge sich entwickeln, wohin die Reise geht. Manchmal hält man vielleicht an, blickt zurück dahin, woher man gekommen ist, überlegt, wie es weitergeht.

Ganz wichtig scheint mir auch zu sein, die Geschichte, die in einem Problem, mit dem man sich beschäftigt, steckt, zu entdecken - ‘früher wußten die Leute darüber nichts, sie waren da ganz anderer Ansicht als wir heute. Und auch heute arbeiten Leute noch an diesem Problem, weil sie meinen, wir wissen noch längst nicht alles. Und auch, als sie meinten, dem Geheimnis auf die Spur gekommen zu sein, waren noch nicht alle Fragen beantwortet.’

Dieses Gefühl dafür, daß Erkenntnis immer weitergehen kann, entwickelt man auch schon in jungen Jahren. Und ich denke, das allein gibt der Kultur Bestand. Auch Kinder interessiert es, wie Leute früher über ein Problem gedacht haben. Die Geschichte der Wissenschaft - im doppelten Wortsinn - ist für sie interessant. Das schulische ‘das ist die richtige Antwort’ ist nun wirklich völlig unwissenschaftlich. Aber es kann allmählich abgelöst werden durch Fragen wie: ‘Warum haben die Menschen darüber eigentlich nachgedacht?’ Ich meine, irgendwas muß ja falsch oder merkwürdig mit einer Sache gewesen sein, daß man angefangen hat, Fragen zu stellen. Aus irgendeinem Grund war es ja wohl nötig, mehr über etwas zu erfahren. - Wenn man beginnt, so zu denken, wird Lernen zu einer Reise, bei der man ganz unvermeidlich auch mal in die Irre geht, aber trotzdem weiterfährt.

Um auf das Workshop Center als Ort der Veränderung zu sprechen zu kommen: Wir hatten auch vorher schon Workshops gemacht, aber da waren wir mit Taschen voller Material von Schule zu Schule gezogen, was bedeutete, daß die Sachen nach dem Workshop gleich wieder weg waren. Wir wünschten uns einen Ort, wo die Sachen bleiben konnten und wo die Erinnerung an das, was man mit ihnen ausprobiert hatte, bestehen blieb. Nicht nur für Kinder, auch für Lehrerinnen und Lehrer ist es enorm wichtig, daß sie in einen Raum kommen können, in dem sie einen Teil der Lerngeschichte sehen, und auch sehen, was andere ausprobiert haben. Dann kommen sie selbst auch wieder auf neue Ideen.

Ich konnte die LehrerInnen aufgrund solcher Erfahrungen davon überzeugen, auch in der Schule immer ein paar Ergebnisse aus einem abgeschlossenen Vorhaben präsent zu haben, um den Kindern zu ermöglichen, einen Bezug zur Zeit zu entwickeln.

Die Bedeutung des Workshop Centers lag also zunächst darin, einen festen Ort zu haben, wo die Geschichte und Vielfalt der tatsächlichen Lernprozesse präsent blieb. Aber in der Anfangszeit haben wir auch vieles einfach demonstriert. Die Lehrerinnen hatten vielleicht angefangen, mit Cuisenaire-Stäben zu arbeiten, wollten wissen, ob sie noch mehr damit anfangen konnten, als sie bisher ausprobiert hatten, und da es viel mehr gab, haben wir es ihnen auch gezeigt.

Aber das Demonstrieren mußte nicht die einzige Methode bleiben. Wir ließen sie selbst etwas ausprobieren, zeigten ihnen unsere eigenen Experimente oder schlossen uns ihren an. Wir versuchten, einen Sinn dafür zu entwickeln, daß man mit dem Material frei umgehen konnte, eigene Fragen an die Welt stellen konnte.

Ich denke, es ist eines der ganz großen Ziele der Bildung, daß die Lernenden darauf vertrauen lernen, daß sie Fragen stellen können. Und daß die Fragen vielleicht beantwortet, vielleicht aber auch nicht beantwortet werden können. Und das man vielleicht auf etwas stößt, daß die eigene Frage in einen größeren Zusammenhang stellt. Dahin haben wir uns allmählich entwickelt - sich mit dem Material direkt zu beschäftigen, von anderen Personen direkt zu lernen, selbst alles mögliche auszuprobieren, allmählich zu erkennen, daß ein bestimmter Gegenstand, mit dem man sich beschäftigte, nahezu unendlich viele Möglichkeiten der Erkenntnis bot und man deshalb nicht zu einfachen Antworten oder Merksätzen kommen konnte.

Außerdem war wichtig, daß die Leute, die im Workshop Center als BeraterInnen arbeiteten, in eigene interessante Studien verwickelt waren, so daß sie nicht nur in der klasssischen beaufsichtigenden Lehrerrolle erfahrbar wurden, sondern quasi dazu einluden, sich ihrer eigenen interessanten Arbeit anzuschließen."

Schlusssatz nach oben

Lillian Weber: "Wenn man bei der Veränderung von Schule in jedem einzelnen Aspekt Erfolg haben will, kommt man nirgendwo hin. Aber wenn man anfängt, den einen oder anderen kleinen Durchbruch zu würdigen - daß die Lernumgebung reichhaltiger wird, daß die Schule als ganze mehr genutzt wird, daß die Kinder mehr miteinander arbeiten, daß die LehrerInnen mal was ausprobieren, all diese simplen Dinge - dann werden die Veränderungen immer komplexer.

Nichts ist sicher besser, um die Veränderung lebendig zu erhalten, als von der kindlichen Entwicklung, dem kindlichen Lernen fasziniert zu sein. Dafür muß man sich nicht besonders aufopfern, denn dann darf man selbstverständlich auch von seinem eigenen Lernen fasziniert sein. Aber wenn man nur von seiner eigenen Entwicklung begeistert ist, führt der Weg in die Irre - dann gibt man vielleicht eine besonders kreative, reichhaltige Vorstellung in der Schule, aber es ist immer noch eine Vorstellung, bei der man selbst dominiert."

Weiterführende Literatur:nach oben

Lillian Weber: The English Infant School and Informal Education. - Englewood Cliffs: Prentice-Hall 1971.

Lillian Weber: Wasser und Sand. In: Päd.extra & demokratische Erziehung, Mai 1990.

Ulrike Zimmermann: Ein Interview mit Sid Morrison, In: betrifft: erziehung 1984.

Karin Ernst: Ein Tierskelett im Lastwagen-Ruheraum. Offener Unterricht an Grundschulen in New York City. - In: päd.extra 7/8, 1985, S. 24-28.

Karin Ernst: Risse in der Mauer... Leben lernen in der Stadtteilschule. In: Lutz van Dick u.a. (Hrsg.): Ideen für Grüne Bildungspolitik. Weinheim 1986, S. 56-72.

Karin Ernst, Barbara Puhan-Schulz: Fortbildung vor Ort oder Wie man ein Lehrerzentrum gründet. Weinheim 1990.