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Readerbeitrag
zur Tagung "Subjektsein in der Schule -
eine Auseinandersetzung mit dem Lernbegriff Klaus Holzkamps" (1)
1 Grundlegende Prämissen Entdeckenden Lernens
1.1 Die Person im Dialog mit der "Welt"
1.2 Entdeckendes Lernen lernen - ein Beispiel
1.3 Die Bedeutung der eigenen Frage beim Entdeckenden Lernen
2 Entdeckendes Lernen und Klaus Holzkamps Lernbegriff: Gemeinsamkeiten und Kritik
3.1 Reflexionen der Teilnehmerinnen
3.2 Folgerungen aus den Reflexionen und Beobachtungen: "Freiräume nicht nur aushalten, sondern nutzen und genießen"
Als ich die Einladung erhielt, eine Arbeitsgruppe zum Entdeckenden Lernen auf der Tagung "Subjektsein in der Schule - eine pädagogische Auseinandersetzung mit dem Lernbegriff Klaus Holzkamps" anzubieten, war ich einigermaßen überrascht: weder mein pädagogisches Denken noch mein pädagogisches Handeln sind von Klaus Holzkamps Kritischer Psychologie durchdrungen. Gleichwohl sehe ich zwischen seinem Lernbegriff und dem Konzept Entdeckenden Lernens viele Parallelen und interessante Unterschiede, die zu produktiven Auseinandersetzungen führen können. Deshalb folgte ich der Einladung zur Tagung gerne und bot dort den Workshop "Lernen entdecken - vom Entdeckenden Lernen und der Bedeutung der eigenen Frage" an.
Da Entdeckendes Lernen in Theorie und Praxis ein viel gedeutetes Konzept darstellt und sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber kursieren, möchte ich im Rahmen dieses Beitrags zunächst meine Auffassung des Lernverständnisses darlegen. Dies kann nur eine grobe Skizze sein, die den interessierten Leser zugleich auf weiterführende Literatur verweist. Ich betone dabei besonders das Prinzip der "persönlich bedeutsamen Frage" als ein zentrales Moment Entdeckenden Lernens.
Die Auseinandersetzung mit Holzkamps Lernbegriff, insbesondere mit seiner Kritik am Ansatz Entdeckenden Lernens, schließt sich daran an. Mir geht es dabei jedoch weniger um eine systematische Bearbeitung seiner Kritikpunkte, als um das Aufgreifen jener kritischen Einwände, die weiterführende Diskussionen anregen.
Die konkrete Darstellung und Auswertung des Workshop-Angebots im Rahmen der Tagung folgt den theoretischen Darlegungen. Sie basiert auf den schriftlichen Reflexionen einiger Teilnehmerinnen der Arbeitsgruppe.
Entdeckendes Lernen ist ein Lernverständnis, das sich in einem Prozess der ständigen Weiterentwicklung befindet. Es stellt eine Kernidee anderen Lernens und Lehrens dar und grenzt sich in vieler Hinsicht radikal gegen traditionelles "Schule machen" ab. Es ist keine Methode und auch kein Rezept, das sich auf begrenzte Freiarbeitszeiten oder andere spezielle Phasen eines Wochenplans beschränken lässt. Es gilt auch nicht nur für bestimmte Fächer oder Schüler- bzw. Altersgruppen. Vielmehr steckt hinter diesem traditionsreichen Ansatz eine dezidierte Haltung der Welt und dem Menschen gegenüber. Sie kommt in der Betrachtung von Lernprozessen in folgenden Prinzipien und Annahmen zum Ausdruck:
Lernen im schulischen Zusammenhang wird daher als persönlich bedeutsamer Aneignungsprozess in einem sozialen Kontext verstanden, der durch eine anregende Lernumgebung, die vielfältige Zugänge zur Welt ermöglicht und eine dialogische Lernbegleitung unterstützt wird.
Diese Kernaussagen Entdeckenden Lernens, die auf verschiedene erkenntnistheoretische und entwicklungspsychologische Grundannahmen zurückzuführen sind, wurden bereits in den 80er Jahren von Karin Ernst und anderen reformorientierten PädagogInnen formuliert. Dabei wurde die anglo-amerikanische Diskussion über "enquiry" oder "inquiry", "open education" und "informal learning" auch in den hiesigen Diskurs über die Reform von Unterricht und Schule aufgenommen. In der Gründung von Lernwerkstätten als Zentren innerer Schulreform (Ernst, K. 1987) hat sich diese pädagogische Konzeption u.a. seit den 80er Jahren Raum geschaffen, um die weitere Entfaltung des Ansatzes Entdeckenden Lernens voranzutreiben. Dabei wurde zwar die Nähe zum naturwissenschaftlichen Bereich, in dem Entdeckendes Lernen insbesondere in der anglo-amerikanischen Diskussion verankert ist, nie geleugnet, jedoch sehr schnell die überfachliche und subjektorientierte Qualität dieses Lernverständnisses deutlich herausgearbeitet. Denn Entdeckendes Lernen, wie Karin Ernst es versteht - und dem ich mich anschließe - geht nicht primär von der Fachdisziplin aus, sondern von Fragen, die dem Kind, dem Jugendlichen oder dem Erwachsenen von Bedeutung sind. Dabei ist der erfahrungs- und handlungsorientierte Prozess des Lernens ebenso bedeutungsvoll und erkenntnisreich, wie die Ergebnisse dieser Aneignung oder Konstruktion von Wirklichkeit. Auf diese Weise werden komplexe Bilder der erfragten Gegenstände oder Verhältnisse entwickelt, die für den Lernenden sinn- und bedeutungsvoll sind und zu einem besseren Verstehen der Welt führen. Lernbewegungen vollziehen sich also nicht entlang schulischer Fächergrenzen, sondern entlang komplexer Fragestellungen, die die Lebenswelt betreffen und durch Irritationen hervorgerufen werden.
Der Ansatz Entdeckenden Lernens befindet sich, wie bereits gesagt, in einem ständigen Prozess der Weiterentwicklung und wird sowohl durch neue Erkenntnisse der Lernforschung als auch durch Erfahrungen und Reflexionen der Lehr- und Lernpraxis weiter ausgedeutet und entfaltet
1.1 Die Person im Dialog mit der "Welt"
Im Sinne subjektwissenschaftlichen Denkens steht die Person im Dialog mit der Welt im Zentrum des wissenschaftstheoretischen Bezugsrahmens Entdeckenden Lernens. Dabei sind Piagets Erkenntnisse zur aktiven Aneignung der Welt durch den Aufbau komplexer Handlungsschemata und Denkkonzepte sowie Deweys Arbeiten zur Bedeutung von Erfahrung in Lernprozessen maßgebliche Bezugstheorien. Auf die Arbeiten von Piaget und Dewey rekurrieren inzwischen auch neuere erkenntnistheoretische Perspektiven, die ebenfalls Eingang in die Diskussion Entdeckenden Lernens gefunden haben. Ich verweise in diesem Zusammenhang einerseits auf die Debatte zum "conceptual change" - oder "Konzeptwechsel" im deutschsprachigen Raum - und andererseits auf die vielschichtigen Diskurse, die zum Thema "Radikaler Konstruktivismus und Pädagogik" geführt werden.
Der Lernende wird im Rahmen Entdeckenden Lernens folglich nicht nur als Person mit eigener (Lern-)Geschichte respektiert und mit seinen Fragen und Interessen ernst genommen, sondern in einer mehr oder weniger fortwährenden Auseinandersetzung mit der Welt begriffen. Schule ist ein Teil dieser Welt, in der es darum gehen könnte, sich diesem Prozess der Erschließung von Welt zum Zwecke einer erweiterten Handlungs- und Verstehenskompetenz der Individuen besonders intensiv zu widmen, diese Prozesse zu reflektieren und durch Irritationen weiterzuführen.
Das Entdeckende Lernen speist sich also
Die hier genannten lerntheoretischen Grundlagen werden in einer Reihe von gängigen Konzepten zum offenen Unterricht häufig in eine "Angebotspädagogik" transferiert, die für die Lernenden verschiedene vorstrukturierte Arbeitsschwerpunkte bereithält. Dabei beschränkt sich die Offenheit für die Lernenden häufig darauf, das Lerntempo und die Reihenfolge der durchzuführenden Arbeiten bestimmen zu dürfen. Angereichert werden diese Formen von Unterricht mit Spiel- und Bewegungsphasen oder übungen zur Entwicklung sozialer Kompetenzen. Hier werden von den Lernenden in abgesteckten Feldern meist fachwissenschaftlich definierte Sachverhalte "entdeckt", wobei unterschiedliche Lösungswege akzeptiert werden. Diese Unterrichtskonzepte werden Entdeckendem Lernen aber weder im Hinblick auf die persönlich bedeutsame Fragestellung des Lernenden noch auf die individuelle und aktive Gestaltung des Lernwegs gerecht. Diese Formen didaktisierter Offenheit in den vom Lehrer gesetzten Grenzen erfreuen sich großer Beliebtheit. Ein Grund dafür könnte sein, dass die entsprechenden Veränderungen des Unterrichts auf didaktisch-organisatorischer Ebene nicht unbedingt mit der mühsamen Weiterentwicklung des Lernverständnisses des Lehrers einhergehen müssen. Durch Lernzirkel und Arbeitsblätter, durch abgezirkelte Phasen von Freiarbeit und eine Projektwoche kurz vor den Ferien können SchülerInnen zwar gewisse Lernfreiräume erlangen, aber der "Lehrlernkurzschluß" (vgl. Holzkamp, K. 1995, 391 ff), d.h. Lernen als abhängige Variable von Lehren zu verstehen, muss als Prinzip dabei nicht in Frage gestellt werden.
Wenn ich mich dagegen auf den Standpunkt stelle, dass Lernprozesse immer persönlich bedeutsame Fragen verfolgen, sind damit weitergehende Implikationen für die Gestaltung von Unterricht und das Lehrerhandeln verbunden. Dann muss u.a. eine komplexe Lernumgebung bereit gehalten und die Schule geöffnet werden, um individuelle Zugänge zur Auseinandersetzung mit der Welt zu ermöglichen.
Das Finden von Zugängen und das Entwickeln von Lernwegen bedarf der Begleitung: viele Schülerinnen und Schüler tragen zwar Unmengen von Fragen in sich, haben aber häufig verlernt, diese im Kontext von Schule wichtig zu nehmen. Gerade in der Arbeit mit Jugendlichen habe ich oft feststellen können, dass diese gar nicht damit rechnen, dass sie in schulischen Lernarrangements nach ihren Interessen gefragt werden. Passiert dies dann doch einmal, sind sie zurecht - zunächst sehr misstrauisch und wittern eine "didaktische Falle".
Entdeckendes Lernen ist diesem Verständnis nach immer ein Mehrfaches:
Entdeckendes Lernen beschreibt in diesem Sinne ein "ganzes Lernen", ein "Lernen als Ganzes"
1.2 Entdeckendes Lernen lernen - ein Beispiel
Um Lehrerinnen und Lehrer mit dem beschriebenen Lernverständnis bekannt zu machen, bieten die VertreterInnen dieses Ansatzes Workshops zum Entdeckenden Lernen an. Im Rahmen dieser mehrtägigen Veranstaltungen erhalten angehende oder bereits berufstätige KollegInnen die Gelegenheit, sich selbst in eine solche Such- und Lernbewegung hinein zu begeben: Auch Konzepte wie Entdeckendes Lernen müssen aktiv entwickelt und von jedem einzelnen, der sich dafür interessiert, immer wieder neu erfunden werden (vgl. Weber 1977, Ernst 1990a, Zocher 1999). Es wird daher zunächst weder über Didaktik, Bildungspläne oder veränderte Kindheit referiert, noch werden neue Rezepte oder Arbeitsmaterialien für den Unterricht versprochen - das Entwickeln einer persönlich bedeutsamen Fragestellung steht im Mittelpunkt der Veranstaltung. Dabei werden Fragen und Ideen der TeilnehmerInnen wie: "Warum brennt Milch beim Kochen an und wie kann ich dies verhindern?", "Wie entstehen Jahreszeiten?", "Auf der Suche nach meinem Blau", "Untersuchung von Hautverfärbungen beim Genuß von Alkohol", "Untersuchung eines umliegenden Gebäudes auf seine historischen Spuren" etc. entdeckend bearbeitet.
All diese Themen weisen verschiedene Dimensionen auf:
Ich möchte nun exemplarisch einen Lernprozess, der im Rahmen eines solchen Workshops stattgefunden hat, herausgreifen und skizzieren, um daran wesentliche Prinzipien Entdeckenden Lernens noch einmal zu verdeutlichen. (6)
Zu Beginn einer unserer Workshops zum Entdeckenden Lernen (Lernwerkstatt an der TU-Berlin) äußerte sich eine Lehrerin, Barbara, begeistert über die Farbintensität des Blütenstaubs der Sonnenblume. Einige Tage vor der Fortbildung hatte Barbara ein Feld dieses Blütenstaubs im Rahmen einer Kunstausstellung bewundert. Angesichts einer Sonnenblume in der Lernwerkstatt fiel ihr dieses Erlebnis wieder ein. In der Workshop-Woche zum Entdeckenden Lernen wollte sie sich nun damit beschäftigen und begann, die kleinen gelben Pollen zu sammeln. Dies stellte sich als mühsames und langwieriges Unterfangen heraus. Barbara schaute sich einzelne Staubpartikel unter dem Mikroskop an, zeichnete sie und versuchte dabei, den richtigen Farbton zu treffen. Darüber hinaus begann sie sich für den "Standort" ihrer gelben Pollen zu interessieren: die Sonnenblume selbst und insbesondere die Staubgefäße rückten ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Sie entdeckte bei genauerer Betrachtung deren spiralförmige Anordnung im Inneren der Blume. Dies ließ sie nicht mehr los. Mit Hilfe eines Buches, "Formen in der Natur" von Peter Stevens, stieß Barbara auf das Phänomen der Musterbildung in der Natur, das sie nun systematisch zu untersuchen begann. Mit Hilfe von Weißdorn, Sellerie und Kohlköpfen erkannte sie Regelmäßigkeiten in der Blattanordnung, die als Wachstumsprinzipien beschrieben werden. Sie überlegte sich Verfahren, um diese Prinzipien sichtbar zu machen (Modellbau, Drucktechniken etc.). Die Vertiefung des Themas führte sie in mathematische Herausforderungen (Fibonacci-Folge, Konstruktion von Spiralen), denen sie sich mit großer Ausdauer stellte. Sie begann, die mathematische Logik der biologischen Prinzipien nachzuvollziehen und für sich neu zu entdecken. Dies war für Barbara selbst um so erstaunlicher, galt sie doch nach eigenen Aussagen früher als schlechte Mathematik-Schülerin, was ihr den Spaß am Mathematisieren genommen hatte.
Barbaras Lernprozess beginnt also mit einer ästhetischen Empfindung, wird von biologischen Fragestellungen geleitet, führt in mathematische Felder und streift eine Menge anderer Gebiete (Drucktechnik, Modellbau, etc.) auf diesem Weg. Die Motive für ihr Lernen - die Lernbegründungen im Sinne Holzkamps - erscheinen mir dabei ebenso vielfältig zu sein, wie der Dialog mit der Sache an sich.
Im Mittelpunkt steht auch in der Lehreraus- und Weiterbildung der Lernende, seine Vorerfahrungen, seine Konzepte, seine Fragehaltung, die in komplexen erfahrungs- und handlungsorientierten Lernmöglichkeiten sichtbar werden können. Ein solches Lernen ist im gängigen Ausbildungs- und Schulbetrieb organisatorisch schwer zu realisieren und stellt hohe Ansprüche an die Professionalität der Lehrenden: Eine hohe Fachkompetenz, die verschiedene Wissensebenen eines Themas aufschließt (vgl. Harlen 1992) ist dabei ebenso unumgänglich, wie die Fähigkeit zur dialogisch beratenden Lernbegleitung, die sich zunächst am Arbeitsbogen (im Sinne Anselm Strauss, vgl. Strauss 1985) des Lernenden orientiert. Damit widerspricht Entdeckendes Lernen nicht nur den gängigen und habitualisierten Vorstellungen des Lernens, sondern auch des Lehrens.
Aus dem bis jetzt Gesagten ergibt sich, dass Entdeckendes Lernen auf der schulischen Ebene ein Miteinander fordert, das den Lernenden in seiner Auseinandersetzung mit der Welt in das Zentrum eines didaktischen Entwurfs stellt. D.h., Inhalt und Weg des Lernens werden im wesentlichen von den einzelnen Lernenden selbst entwickelt und im sozialen Kontext der Gruppe ausgehandelt. Auf diese Weise werden Material/Umwelt, Mitschüler und Lehrer zu Lernbegleitern, die gleichzeitig im Rahmen ganz verschiedener Aushandlungsprozesse über die Welt "beansprucht" werden. Das Lehrerhandeln muss sich dabei immer wieder neu konstituieren: Angesichts der lernenden Person, der gewählten Thematik, des Standes der Erkundung, des sozialen und materiellen Kontextes sowie anderer Rahmenbedingungen müssen Entscheidungen bezüglich der Lernbegleitung getroffen, unterstützende Maßnahmen ersonnen und angeboten werden. Das bedeutet, dass die sorgsame Beobachtung von Prozessen, das Aushandeln von Verständigung und das miteinander Nachdenken wesentliche Tätigkeiten des Lehrenden sind, die wenig mit dem routinierten Lehrbetrieb gemeinsam haben: Wenn es keine zwei gleichen Lernprozesse gibt, kann es entsprechend auch keine zwei gleichen "Lehrprozesse" geben. Dass dabei schulische Arbeitsbedingungen und Regeln z.T. als behindernde Grenzen erlebt werden, liegt auf der Hand
1.3 Die Bedeutung der eigenen Frage beim Entdeckenden Lernen
Das Prinzip der eigenen Frage, der persönlichen Bedeutsamkeit eines Lernprozesses erscheint mir inzwischen als ein tragfähiger Gradmesser, um die Qualität institutionalisierten Lernens einzuschätzen: Egal wie bunt, materialreich, mediengerecht, vielversprechend und selbstevaluierend ein Lernprogramm daherkommt, interessant ist, inwieweit tatsächlich eigene Fragen der Lernenden zum Gegenstand von schulischen Lernprozessen werden und in eine aktive erfahrungsorientierte Auseinandersetzung münden dürfen.
Karin Ernst unterscheidet vier Frage-Ebenen, die im Verlauf eines entdeckenden Lernprozesses in der Regel aufscheinen und unterschiedliche Dimensionen der Auseinandersetzung des Lernenden mit der Sache/dem Thema beschreiben (vgl. Ernst 1996, 8 ff.). Sie können Lehrenden als Orientierung in der Begleitung dieser Prozesse dienen, sind aber nicht als starres Regelwerk zu verstehen.
In der ersten Fragephase zu Beginn eines Lernprozesses werden häufig Fragen gestellt oder Ideen geäußert, die nicht unbedingt von besonderer Tragfähigkeit für das Lernen sein müssen. Es sind erste Annäherungen, die in der Begegnung mit der Sache weiter entfaltet werden. Das Interesse der Workshop-Teilnehmerin Barbara an der gelben Farbwirkung der Sonnenblumenpollen stellt z.B. eine solchen Einstieg in einen Frageprozess dar. Daraus können sich - so Ernst - handhabbare Fragen zweiter Ordnung entwickeln. In dem exemplarisch skizzierten Lernprozess waren dies Fragen, die die Struktur der Pollen, die Anordnung der Sonnenblumenkerne etc. betrafen.
Diese zweiten Fragen erwachsen im unmittelbaren Umgang mit dem Lerngegenstand, den anderen Lernenden sowie dem Lernbegleiter. Diese Fragen zeichnen sich durch eine höheren Grad der Konkretisierung aus und sind meistens mit ersten Schritten der Erkundung verbunden.
Die dritte Ebene der Fragen liegt - Karin Ernst nach - meist im Arbeitsprozess verborgen. Es sind Fragen, die zu grundsätzlichen sachbezogenen Einsichten führen, ohne dass dies das erklärte Ziel des Lernenden gewesen wäre. Eleonor Duckworth spricht in diesem Zusammenhang von "wonderful ideas" (vgl. Duckworth 1987). Im Zusammenhang mit Barbaras Lernprozess zur Sonnenblume stellt die Beschäftigung mit den allgemeinen Wachstumsprinzipien und Mustern in der Natur eine solche Dimension dar. Karin Ernst verweist auf einen anderen Lernprozess, den eines Kindes, um diesen Fragehorizont zu verdeutlichen:
"Als Daniela mit Holzbausteinen eine Brücke und dann mit kleinen Ziegeln ein Haus bauen wollte, war die Erkenntnis, dass ihre Bauwerke nur halten, wenn sie die Steine "auf Lücke" setzt, eine solche wundervolle Idee. (...) Wenn Lernende solchen grundlegenden Einsichten auf der Spur sind, ordnen sie für sich die Welt neu, selbst wenn die Einsicht an sich alt ist." (Ernst 1996, 9)
Auf diese Weise erweitert sich die Verstehens- und Handlungskompetenz des Lernenden und er ist fähig, seine Einsichten in verschiedene Zusammenhänge zu übertragen, die ihm nützlich erscheinen.
Die vierte Frage-Ebene ist die des persönlichen Motivs, die nach der symbolischen Bedeutung der Fragestellung bzw. der Sache für die Person fragt. Diese Ebene muss nicht unbedingt thematisiert werden, schwingt nach unseren Erfahrungen aber in den meisten entdeckenden Lernprozessen mit. Hier liegen häufig ganz persönliche, psychodynamische Fragen oder Themen zugrunde, die gerade diesen Gegenstand oder dieses Thema, zu gerade diesem Zeitpunkt und in gerade diesem Kontext interessant erscheinen lassen. So kann die Suche nach der "Farbe Grün als Grund- und nicht als Mischfarbe" auch etwas mit der eigenen Orientierung in der augenblicklichen biographischen Situation zu tun haben; die Auseinandersetzung mit "Verschlußsystemen" (Reißverschlüsse, Knopfleisten, etc.) kann für den Lernenden psychosozial von Bedeutung sein und den Prozess begleiten. Inwiefern hier das eigentliche Motiv für gerade diese Auseinandersetzung mit der Welt liegt - oder zumindest eine maßgeblicher Antrieb - läßt sich m.E. nicht abschließend sagen. Es wäre spannend, diese vierte Frage-Dimension weiter zu untersuchen. Es scheint uns nur sicher, dass eine Frage nie zufällig entsteht, sondern in der augenblicklichen und biographischen Situation mit begründet liegt (vgl. hierzu u.a. Ernst 1990b).
Lernen wird als eine Suchbewegung verstanden, die für den Lernenden sinnhaft sein muss. Als sinnvoll wird i.d.R. empfunden, was Antworten auf eigene Fragen gibt, was neue Handlungsmöglichkeiten erschließt, was persönlich befriedigend ist - nicht, was unbedingt richtig oder falsch ist, nicht, was ohne weiteres der Logik einer wissenschaftlichen Disziplin entspricht oder was von einem Anderen erwartet wird. In diesem Zusammenhang halte ich die Diskussion um "Lernbegründungen" als Motive für Lernprozesse, wie Holzkamp sie jenseits der Konstrukte intrinsische und extrinsische Motivation führt, für bedeutsam (vgl. Holzkamp 1995, 75ff). Aus der Begleitung entdeckender Lernprozesse von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen haben sich für mich diesbezüglich verschiedene Fragen und Blickrichtungen aufgetan: Unterscheiden sich die Motive für einen tragfähigen Lern- und Arbeitsprozess in verschiedenen Altersgruppen grundsätzlich oder weisen sie Gemeinsamkeiten auf? Wie verfügbar und bewusst sind diese Lernbegründungen den Lernenden während des Arbeitens? Wie vielschichtig und wandlungsfähig sind die Motive? Was passiert, wenn Motive plötzlich "wegbrechen"? Welches Bild erhalte ich, als begleitende Person, von den Gründen des Lernens? Wie wirken Irritationen seitens der Lernbegleitung auf die Motive des Lernenden?
Um hier mehr Aufschluss zu erhalten wäre Begleitforschung in offenen Lernsituationen - sowohl im Rahmen von Aus- und Weiterbildung, als auch im schulischen Kontext - sehr hilfreich.
Die Entwicklungsgeschichte des Ansatzes Entdeckenden Lernens, auf der meine Darstellung basiert, weist an keiner Stelle einen direkten Bezug auf Klaus Holzkamps Theorie zur Neubestimmung der Psychologie als Subjektwissenschaft und seinem Verständnis von Lernen und Lehren auf. Jedoch scheinen mir an verschiedenen Stellen durchaus vergleichbare Intentionen und Sichtweisen in den Konzepten sichtbar zu werden, die ich hier andeuten möchte.
Klaus Holzkamp beschreibt Lernen als genuines Lebensinteresse des Menschen und hebt die Subjekthaftigkeit des Lernens hervor: Lernen ist subjektiv im Sinne eines subjekthaft-aktiven Weltbezugs und Zugriffs auf die Welt als Erweiterung der Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen zu verstehen (Holzkamp 1995). Lernhandlungen sind subjektiv begründet und stellen sich entsprechend nur dann ein, wenn für das Subjekt ein innerer Zusammenhang besteht und sich Verfügungserweiterungen (= Lebensqualität) antizipieren lassen.
"Was jeweils meinem Leben so "nahe" ist, dass ich meine Lernanstrengungen darauf beziehen will, dies ist nicht durch ... Vorgabe der Schule/des Lehrers ohne mich als Lernsubjekt zu entscheiden." (ebda., 538)
Lernwiderstände im klassischen schulischen Kontext werden daher bei Holzkamp als Versuche des Subjekts gedeutet, sich zu behaupten und nicht als dessen persönliche Verhaltensstörung diagnostiziert.
Entdeckendes Lernen ist m.E. - im Bezug auf die Haltung dem Lernenden gegenüber und dessen Motiven für sein Lernen - wesentlich in dem aufgehoben, was der kritische Psychologe als "expansives Lernen" beschreibt:
"Die zu erwartenden Anstrengungen und Risiken des Lernens werden hier also unter der Prämisse von mir (als Lernendem; U.Z.) motiviert unternommen, dass ich im Fortgang des Lernprozesses in einer Weise Aufschluß über reale Bedeutungszusammenhänge gewinnen und damit Handlungsmöglichkeiten erreichen kann, durch welche gleichzeitig eine Entfaltung meiner subjektiven Lebensqualität zu erwarten ist. Lernhandlungen, soweit motivational begründet, sind damit quasi expansiver Natur." (ebda., 190, Hervorh. im Text)
In seinem Buch "Lernen" steht Holzkamp dem Entdeckenden Lernen jedoch kritisch gegenüber (ebda. 1995, 419 ff). In Anlehnung an Bruner 1973 beschreibt er dieses Konzept im Grunde als reformpädagogischen Humbug, bei dem Täuschung und Schauspielerei als didaktische Mittel eingesetzt werden, ohne an den grundlegenden Lehrlernstrukturen etwas zu ändern (vgl. ebda. S. 421). Die Freiheitsgrade, die SchülerInnen beim entdeckenden Lernen (7) erlebten, so Holzkamp, seien lediglich Räume, die ihnen vom Lehrer als "Strippenzieher" zugestanden und gestattet, die aber keine wirkliche Freiheit für den einzelnen bedeuten. Darüber hinaus, so Holzkamp in seiner Kritik an Bruners Vorstellungen zum entdeckenden Lernen, werde im Gegensatz zu darstellenden Lehrmethoden, ein spezifisches Wissens- und Einsichtsgefälle zwischen Lehrer und Schüler konstruiert, in dem der Lehrer dazu angehalten sei, sein Wissen zurückzuhalten, um den Schülern Entdeckungen zu ermöglichen. D.h., Lehrer geben Rätsel auf, deren Lösung sie bereits kennen, sie stellen sich unwissend, um die Lernenden in ihrer Denkfähigkeit zu schulen und problemorientiertes Lernen zu fördern. Damit, so Holzkamp, "wachse der manipulative Einschlag, den Bruner durch das Konzept entdeckenden Lernens doch gerade vermindern wollte." (ebda., 421)
Dem Konzept entdeckenden Lernens hält er entgegen, dass es das Schlüsselproblem des Lehrlernens nicht löse, sondern den Schüler über die wahren Verhältnisse hinweg täusche. Das Lernmotiv werde nach innen verlagert, so dass Widerstand gegen Zuweisungen vom Lehrer nicht mehr möglich sei: "Die Schüler/Schülerinnen wären so nicht nur faktisch dem Einfluß des Lehrers unterworfen, sondern die Tatsache dieses Einflusses wäre für sie auch noch unerkennbar damit Reflexion darauf und Widerstand dagegen vollends unmöglich." (ebda., 422)
Völlig aus dem Blick scheint den Vertretern des entdeckenden Lernens dabei zu rutschen, so Holzkamp, dass einerseits "Lernmotivation nicht durch didaktische Vorkehrungen hergestellt werden kann" und andererseits, dass der Versuch, den Schüler zu einem spontanen und selbstständigen Denker zu machen, eine Paradoxie darstellt (ebda., 420).
Ich teile Holzkamps Kritik an einer Form des Lernens und Lehrens, wie er sie in Anlehnung an Bruner beschreibt. Die kritischen Einwände können als wichtige Prüfsteine und Reflexionsflächen für pädagogisches Handeln genutzt werden unabhängig davon, welchem pädagogischen oder subjektwissenschaftlichen Konzept man folgt. Ich stimme jedoch nicht mit Holzkamp überein, wenn er den Ansatz Entdeckenden Lernens auf diese Weise darstellt und reduziert. Holzkamp bezieht sich hier auf einen frühen Text zum Entdeckenden Lernen, den Bruner erstmals 1962 veröffentlicht hat (8) und der damals für die Entwickung von Alternativen schulischen Lernens und Lehrens von Bedeutung war. Die Kritik an Bruners Vorstellung Entdeckenden Lernens, die mit dem traditionellen Lehr-Lernverständnis nicht bricht, hat sich ansatzweise bereits in dem Buch entfaltet, aus dem Bruner durch Holzkamp zitiert wird, und wurde auch von Lillian Weber schon Anfang der 70er Jahren vorgetragen (vgl. Neber 1973, Weber 1971).
Entdeckendes Lernen wurde in den letzten 25 Jahren weiterentwickelt. Die Literatur hierzu ist vielfältig und spiegelt diesen Entfaltungsprozess gut wider, den ich auf den ersten Seiten meines Beitrags dargestellt habe. Holzkamp hat sich jedoch - seinen Literaturangaben nach zu urteilen - mit dieser Entwicklung nicht weiter auseinandergesetzt.
Ich möchte zusammenfassend den von Holzkamp geäußerten Kritikpunkten folgendes hinzufügen:
Für jeden Lehrer, der notgedrungen die staatliche Schulausbildung und die erste und zweite Phase der Lehrerausbildung durchlaufen hat, bedeutet es nicht erst nach 20 Jahren Schulpraxis meist eine enorme Umstellung, Lernen als persönlich bedeutsamen Aneignungsprozess zu begreifen. Aus dem klassischen Lehrlernen, das traditionellen Unterricht dominiert, wird nun beim Entdeckenden Lernen Lernlernen: Der Lehrer begibt sich mit jedem Schüler wieder in einen Lernprozess; was nicht heißt, dass er zum Gleichen wird: Der Lehrer bleibt erwachsen und regrediert weder zum tobenden Grundschüler noch zum pubertierenden Jugendlichen! Er bleibt Angestellter dieses Staates, der für seine - nicht zu letzt auch selektierende - Tätigkeit bezahlt wird, und Schule ist eine Pflichtveranstaltung: Lehrer haben ihren Arbeitsplatz gewählt, Schüler müssen dorthin. Hieraus ergeben sich insbesondere im Kontext reformpädagogischer Ideen von Schule und ihrer institutionellen Organisation in der Tat Paradoxien professionellen Handelns. Solche unauflösbaren Widersprüche sind auch Bestandteile anderer Professionen, wie z.B. der Sozialarbeit. Es gibt inzwischen eine Reihe interessanter Forschungsbeiträge, die sich mit diesem Merkmal professioneller Arbeit im Hinblick auf die Lehrerprofession beschäftigen (vgl. Schütze 1992, Schütze et al. 1996, Zocher 1999). In diesen Paradoxien liegen zentrale Ansatzpunkte, die im Kontext innerer Schulreform von Bedeutung sind.
Der Lehrer ist aber nicht nur aufgrund seines Status, seines Alters und seiner Aufgaben im System Schule ein anderer als seine Schüler, sondern auch aufgrund seines Wissens- und Erfahrungsvorsprung, den er sicherlich nicht in jeder, aber in vieler Hinsicht besitzt. Das Wissen, die Sachkompetenz allein reicht jedoch im Sinne Entdeckenden Lernens, wie ich es skizziert habe, nicht aus, um Schüler in ihrer Entwicklung von Fragen und Lernprozessen zu unterstützen. Denn es geht nicht um die Vermittlung richtigen Faktenwissens, das nun in rätselhafter Weise dargeboten werden soll - wie Holzkamp irriger Weise annimmt - sondern es geht darum, herauszufinden, wie dieser Schüler an die Sache herangeht, was sein Motiv ist, warum ihn diese Sache interessiert, was er darunter versteht, wie er sein Bedürfnis nach Entfaltung von mehr Handlungs- und Verstehenskompetenz befriedigen will, welche Konzepte in der Auseinandersetzung mit der Sache sichtbar werden, welche Irritationen seinen Verstehensprozess unterstützen etc.. Wenn Lernprozesse persönlich bedeutsam sind, dann gibt es keine zwei gleichen Wege, dann ist Lernen so individuell wie ein Gesicht (Foerster in Kahl 1999,106). Auch der Lehrer als Lernbegleiter ist damit immer wieder herausgefordert, mitzulernen und die Prozesse umfassend zu begleiten.
In der Begleitung entdeckender Lernprozesse habe ich darüber hinaus die lernenden Subjekte kritischer und gegebenenfalls auch widerständiger erlebt, als Holzkamp dies in seiner Kritik vermuten läßt: Haben sie die Chance des für sie bedeutsamen Lernens erst einmal wahrgenommen, lassen sie sich auf "didaktische Tricks" der Begleiter nicht mehr ein und nehmen Impulse, Gespräche, Anregungen meist nur dann wahr, wenn sie ihren Vorstellungen und Intentionen dienen.
Ich teile Holzkamps grundsätzliche Kritik an den Strukturen von Schule, nur wurde und wird Entdeckendes Lernen, wie ich es dargelegt habe, mit Lehrerinnen und Lehrern aus der Schulpraxis zusammen weiterentwickelt. D.h. hieran waren und sind immer Menschen beteiligt, die täglich in dieser Institution arbeiten, die ihrer Arbeit selbstkritisch gegenüberstehen und nach neuen Wegen suchen, lernen und lehren anders zu verstehen. Daher rührt ein gewisser Handlungsbedarf und die Notwendigkeit mit der normativen Macht des Faktischen umzugehen. Konzepte und Theorien allein bewirken keine Veränderungen, es muss Menschen geben, die sie anwenden, in Praxis überprüfen, mit externen "Beratern" darüber reden und sie auf diese Weise weiter entwickeln: Veränderungen - auch Veränderungen am System Schule - können nur durch Handlungen bewirkt werden - und hier sind die Schritte klein und tastend.
Es geht also beim Entdeckenden Lernen m. E. nicht darum, wie Holzkamp kritisiert, gesellschaftliche Strukturen und Bedingungen zu verschleiern und Schüler zu täuschen, sondern vorhandene Strukturen zunächst anders auszugestalten, das eigene Verhalten als Lehrende in diesem System anders zu entwickeln und damit Schülerinnen und Schülern Gelegenheit zu bieten, an den Aushandlungsprozessen über das Verstehen der Welt maßgeblich teilzuhaben. Ich halte es an dieser Stelle eher mit der Prämisse soziologischer Deutung, die durchaus die Möglichkeit sieht, dass auch Interaktion und Kommunikation auf gesellschaftliche Strukturen einwirken und somit zu einer Weiterentwicklung relevanter Institutionen - quasi "von innen" - beitragen kann.
Beim Entdeckenden Lernen wird m.E. über die Holzkampsche Lerntheorie hinaus nicht nur das Subjekt in seiner Auseinandersetzung mit der Welt ernst genommen, sondern es werden auch Alternativen zu einem ergebnis- und faktenorientierten Aushandlungsprozess an sich entwickelt und angeboten. Die aktive Auseinandersetzung, die Bedeutung der Erfahrung sowie der Denk- und Handlungkonzepte, der direkte Dialog mit der Sache etc. sind wichtige Facetten Entdeckenden Lernens, die sich auf den Weg des Lernens und Verstehens beziehen und den individuellen Aufbau von Erkenntnis und Handlungskompetenz beleuchten; sie implizieren entsprechende Tätigkeiten des Lernbegleiters, durch die diese Prozesse gefördert werden sollen.
Bei Holzkamp finde ich im Gegensatz dazu nur wenige Hinweise darauf, wie die Beziehung und Aushandlung zwischen Mensch und Welt im Rahmen von schulischen Lernprozessen ermöglicht und begleitet werden kann. Er legt mehr Wert auf die Analyse der motivationalen Bedingungsstruktur von Lernen und die Kritik der gesellschaftlichen Funktion von Schule. Ich denke, an diesem Punkt können die Vertreter und Vertreterinnen beider Ansätze gut voneinander profitieren.
Das "Schaum-Experiment", das ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagung "Subjektsein in der Schule" als Workshop angeboten habe, ist den Arbeitsmaterialien des "Exploratorium, Institute for Inquiry" entnommen (9). Ich habe mich aus den eingangs dargelegten Gründen für ein handlungs- und erfahrungsorientiertes Angebot im Rahmen der Tagung entschieden. Gleichwohl stellt das Angebot keinen Prototypen eines Workshops zum Entdeckenden Lernen dar.
Es geht bei dieser Unternehmung darum, eine differenzierte Wahrnehmung von verschiedenen Arbeitsarrangements im Kontext schulischen Lernens zu bekommen. Hintergrund hierbei ist die amerikanische Diskussion um den "hands-on-approach in science", die vergleichbar ist mit der hiesigen Diskussion um handlungsorientierten, aktiven Unterricht im sachkundlichen Bereich. Zu ein- und demselben Thema - "Schaum" - werden in dem Workshop drei verschiedene Arbeitszugänge angeboten:
Das Arrangement mit den drei Stationen stellt keine methodische Hinführung zum Entdeckenden Lernen dar, sondern präsentieren drei eigenständige, didaktisch strukturierte Herangehensweisen, die erlebt und verglichen werden sollen.
Bei der "inquiry activity" handelt es sich aufgrund der zeitlichen Rahmenvorgabe lediglich um die erste Phase Entdeckenden Lernens, die David Hawkins als "messing about" bezeichnet hat (vgl. Hawkins 1970). Die Lernenden erhalten hier keine konkreten Arbeitsaufträge, sondern sollen sich auf die Suche nach einer eigenen Frage, einer Idee machen und sich in einen spielerischen, schauenden, ausprobierenden Dialog mit der Sache begeben. Dies ist in diesem Workshop natürlich besonders schwierig, da der Zeitrahmen knapp bemessen und das setting ein Oberthema, nämlich "Schaum", vorgibt. Das bedeutet, dass die Lernenden hierbei mit einem zwar weiten, aber benannten Bereich konfrontiert werden, in dessen Horizont sie sich zunächst bewegen sollen. Dies scheint auf den ersten Blick die Freiheit der eigenen, persönlich bedeutsamen Frage einzuschränken und im Widerspruch zu den Prämissen Entdeckenden Lernens zu stehen. In Workshop-Wochen kann aufgrund des größeren Zeitkontinuums auf Oberthemen dieser Art verzichtet werden; ebenso sind die thematischen Eingrenzungen aufgrund der Kontinuität schulischer Arbeits- und Lernprozesse auch im Unterricht nicht notwendig; andererseits können weitgefasste Rahmenthemen wie "Schaum", "Farben", "Körper" etc. für Lernende aber auch stimulierende Wirkung im Sinne einer Irritation haben und die Entfaltung individueller, persönlich bedeutsame Fragen anregen.
Die Workshop-Situation im Rahmen der Tagung versucht hier lediglich eine Annäherung an die zentrale Dimension der persönlichen Bedeutung von Lernen zu bieten.
Es geht dabei - wie bereits gesagt - weniger darum, die verschiedenen Unterrichtsarrangements pauschal zu bewerten, als die unterschiedlichen Qualitäten von Offenheit zu erfahren und zu verstehen. Diese sollten im Rahmen der Tagung mit Holzkamps Vorstellungen zum Subjektsein in der Schule verglichen und diskutiert werden.
Spannend erscheint mir nun zu schauen, wie die Teilnehmerinnen (vier Frauen) auf dieses Angebot reagiert haben. Zunächst möchte ich daher drei Reflexionen von Teilnehmerinnen dieses Workshops präsentieren. Die Kolleginnen haben ihre Beiträge unmittelbar nach der Tagung geschrieben und mir als Rückmeldung auch im Hinblick auf diese Workshop-Dokumentation zur Verfügung gestellt (10). Da die Teilnehmergruppe relativ klein war möchte ich die drei ausführlichen Darstellungen mit den wesentlichen Aussagen einer Gruppe von ca. 50 Studentinnen und Studenten vergleichen, die im Rahmen eines Seminars ihrer Lehrerausbildung ebenfalls diesen Workshop (nur wenig abgewandelt) erlebt haben. Hierbei beziehe ich mich auf die verschriftlichten Reflexionen aus den entsprechenden Seminar-Sitzungen.
3.1 Reflexionen der Teilnehmerinnen
Anna
"Schaum schlagen kurze Reflexion über eine Beschäftigung an einem Samstagnachmittag, die man sich vorher kaum erträumt hätte"
Guided Activity
Ein DIN A4-Blatt vor sich liegen zu haben, gefüllt mit Arbeitsanweisungen und Materialhinweisen ist für eine Studierende sicher nichts Außergewöhnliches: Gleich ran an die Aufgaben. Wie bei einer Checkliste wird alles abgehakt, was vollbracht ist. Doch wie fühle ich mich dabei?
"Ute lacht sich sicherlich ins Fäustchen, ist doch klar, die weiß wies geht! Da ist einfach ein Trick dahinter, dann wird der Schaum schon stabil und der Stift bleibt stehen. Warum schaffen es die anderen bloß und wir nicht?"
Ich fühle mich unter Druck gesetzt und denke bloß, wie sehr ich diese Wettbewerbssituation hasse: Schneller, höher, besser, weiter und das beim Thema Schaum, der doch eigentlich das Angenehmste überhaupt ist: was gibt es Schöneres, als in einer Wanne voll mit Schaum zu liegen? Das hat doch nichts mit der unangenehmen "Bei-mir-klappt-es-nicht"-Situation zu tun!!!
Challenge
Nach dem Prinzip des Versuchens und sich Irrens gingen wir zusammen an die zweite Aufgabenstellung heran: Ohne lange über vorherige Beobachtungen und mögliche Schlußfolgerungen daraus nachzudenken, versuchten wir den 30 cmBerg aus Schaum mit möglichst viel Spüli und intensivem Rühren herzustellen. Diese Vorgehensweise entpuppte sich als Irrweg: Statt eines hohen Berges formten wir einen tiefblauen Polarsee. Dennoch war diese Situation wesentlich spaßiger für mich. Die 30 cm, die es zu erreichen galt, erschienen mir nicht so sehr einengend und strukturiert oder leistungsorientiert, wie die Aufgabenstellung zuvor. Auch der Misserfolg ging mir nicht so nahe die andere Gruppe hatte es ja geschafft und ich betrachtete dies als einen gemeinsamen Erfolg: Sie hatten einen anderen Weg eingeschlagen zur Lösung des gemeinsamen Problems und dieser war erfolgreich. Hinterher konnten wir uns austauschen und die Erkenntnisse über ihr Vorgehen sah ich als Gewinn für mich.
Inquiry
"Oh weh! Was Naturwissenschaftliches! Und so viele Materialien, worauf soll das hinaus? Eine eigene Frage finden! So was! Und was ist, wenn ich nichts finde, was mir passt? Was ergiebig für mich ist, mit dem ich auch wirklich arbeiten will?"
Und plötzlich kommt der Punkt, da sprudeln die Gedanken und Ideen, was ich eigentlich tun will: Dinge, die ich mir in meiner Schulklasse mit den vielen Jungs damals nicht erlaubt hätte; Dinge, die ich auch nicht beim Kuchenbacken tun darf. Plötzlich sind Zeit und bequeme Arbeitshaltung völlig unwichtig. Ich will das jetzt ausprobieren - ich für mich; eine Rechtfertigung dafür, warum ich jetzt ausgerechnet das getan habe, wird mir nachher für die anderen schon einfallen. Und auch das wird irgendwann egal.
Dann plötzlich der Punkt an dem ich merke, dass ich jetzt mehr Informationen haben müsste: Bücher müssten her. "Oder soll ich all das, worüber ich mir jetzt im Unklaren bin, nicht eigentlich von meiner Allgemeinbildung her wissen? Ist es schlimm solche Sachen nicht zu wissen?" In mir taucht der Gedanke auf, dass es auch Schülern so gehen könnte; jetzt müsste sicherlich die Lehrerin einspringen. Ob ich als Lehrerin das wohl könnte? Zum Glück kommt Ute. Aber sie gibt mir nicht chemische Formeln und Lexika als Antwort, sondern fragt mich, was ich bisher gemacht habe, fasst zusammen und wirft mir einen Anknüpfungspunkt zu, an dem es bei dieser Sache für mich weitergehen könnte. Es klappt. Ich bin voll motiviert, an meinem Thema weiter zu arbeiten. Aber die Zeit ist bald um. Schon! Bei der Präsentation meiner Arbeit für die anderen bin ich sogar etwas stolz.
Von Aufgabenstellung zu Aufgabenstellung fühlte ich mich freier. Wichtig war mir, dass Ute immer wieder Impulse zur Reflexion gab. Der Aspekt, wie schnell dieses Machtgefälle zwischen Begleiterin und Handelnder (zwischen Ute und mir) sich ausglich, verblüffte mich völlig: Sie war keine Super-Alleswisserin; ich fühlte mich ernst genommen. Auch im Plenum (bei der Präsentation) konnte jeder seine individuellen Gefühle und Sichtweisen einbringen. Ich fühlte mich so wie ich bin akzeptiert.
Judith
Was liegt obenauf? Was ist geblieben? Was habe ich mitgenommen? Habe ich womöglich was gelernt? - Zwei Tage danach:
Silke
"Schäume sind Träume"
Schäume sind Träume - welch banaler Reim - mit so was darf man sich doch nicht beschäftigen - außerdem drücke ich mich damit mal wieder wunderbar um die Naturwissenschaften - ist das überhaupt eine Frage, Schäume sind Träume?
Aber was interessiert
mich denn sonst an diesen Schäumen? - wie sie zusammengesetzt sind? -
Na ja, so spannend fand ich das gerade nicht. - Also doch die Träume?
- Nee, das ist viel zu philosophisch, dafür brauche ich doch hier nicht
rumexperimentieren.-
(.....)
Mist, jetzt hat das auch schon jemand gemacht. Soll ich trotzdem auch noch...? Das sieht ja dann so aus, als hätte ich keine eigene Idee gehabt. Egal, meine Schaumformation wird ja eine andere, als ihre und hat ja vielleicht auch einen anderen Hintergrund.
Das ist nur ein Teilausschnitt meines inneren Dialogs, den ich in der dritten Phase des Workshops (inquiry) führte. Ich würde sogar sagen, es war ein innerer Kampf um die Suche nach der eigenen Fragestellung. Es schien mir unmöglich, eine Frage zu diesem Thema zu entwickeln, die mich w i r k l i c h interessierte. Viel eher ging ich davon aus, was mich zu interessieren hat und so "traute" ich nicht der Frage bzw. der Metapher "Schäume sind Träume", der ich auf der Spur war. Zum einen zweifelte ich an ihrer inhaltlichen Berechtigung, da ich mit Schäumen erst mal den Großraum Chemie assoziierte zum anderen zweifelte ich an mir selbst, da ich glaubte, mich wieder einmal mehr vor den Naturwissenschaften zu "drücken".
Erst als ich von der Lernbegleiterin Ute Zocher den Zuspruch erhielt "Das ist doch eine spannende Sache", konnte ich m e i n e m Thema Bedeutung beimessen und dran bleiben, ohne noch weiter den Blick "zu den anderen" schweifen zu lassen, von denen ich glaubte, dass sie einer "richtigeren" Frage nachgingen.
Die letzte Unsicherheit meinem Thema gegenüber wich schließlich, als unsere Gruppe nach dieser Phase wiederum in Kommunikation darüber getreten ist, wie es jeder von uns ergangen ist, wie wir die Zeit erlebten, welche Ideen entstanden sind, welche Problem auftauchen. Dabei stellte sich dann heraus, dass jede von uns bei der Entwicklung der eigenen Frage so ihre Schwierigkeiten und Unsicherheiten hatte, wenn auch manche von anderer Art waren.
Der Austausch über die Erfahrungen an den drei Stationen war für mich ein wichtiges Element in diesem Workshop, weil dadurch vieles noch mal klarer wurde und eigene Unsicherheiten ausgeräumt werden konnten. Außerdem wurde mir dadurch bewusst, dass wir ebenso viele Lernprozesse wie Teilnehmerinnen hatten.
Die Kombination der drei Elemente: das eigene Handeln und Experimentieren, die kurzen persönlichen schriftlichen Reflexionen und der Austausch darüber in der Gruppe - hat für mich in der Kürze der Zeit, diesen Lernprozess ermöglicht.
Eine weitere wichtige Erkenntnis, die ich aus dem Workshop mitnehme, ist die der Umkehrung der Verantwortlichkeit des Lernens. Durch die Aneinanderreihung der drei unterschiedlichen Lernsituationen - guided, challenge und inquiry - wurde mir dies besonders bewußt.
Bei der ersten Station, der guided activity, war ich nur darauf bedacht, die Arbeitsschritte genau zu befolgen und innerhalb der vorgegebenen Zeit abzuleisten, ohne erst einmal darüber nachzudenken, welchen Sinn diese Arbeitsschritte eigentlich machen. Die Situation hatte für mich einen sehr starken Wettbewerbscharakter, durch den selbst die Lernmitstreiterin zur Konkurrentin wurde und Teamarbeit kaum möglich war.
In dem zweiten Arrangement - challenge - in der nur noch das Ziel und die Zeit vorgegeben waren, konnten wir uns im Team mehr aufeinander einlassen und abstimmen, die Zeit war nicht mehr so entscheidend und das Ziel nicht "haarscharf", sondern nur ungefähr zu erreichen.
In der dritten Phase - inqiry - gab es nur noch das Material, mit dem wir arbeiten konnten und die Zeitvorgabe. Verblüffend hier war, dass ich die Zeit völlig vergessen hatte. Dennoch sah ich mich auch hier unter Druck. Allerdings hatte der sich nun vom äußeren Leistungs- und Zeitdruck der ersten Phase zu einem persönlichen Leistungs- und Erwartungsdruck umgekehrt: Ich musste nun selbst entscheiden, für was ich mich interessiere bzw. ob ich mich interessiere. Ich entschied, wie und mit welchen Materialien ich dabei vorgehen wollte, um meinem Interesse näher zu kommen. Ich hatte zu entscheiden, welchen Weg ich einschlage. Die Konfrontation mit diesen vielen Entscheidungen in mir drin, war für mich "die härteste Nuß, die es zu knacken" gab.
Soweit zunächst die, wie ich finde, sehr eindrücklichen und interessanten Darstellungen der drei Kolleginnen. Bevor ich ihre Perspektiven auf die Workshop-Erfahrung aufgreife und im Kontext der "Bedeutung der eigenen Frage" diskutiere, möchte ich noch kurz auf die Arbeit mit den 50 Studierenden im Rahmen des Seminars zu sprechen kommen. In der gemeinsamen Reflexion mit den StudentInnen spiegeln sich ähnliche Einschätzungen, wie sie hier von den Tagungs-Teilnehmerinnen dargestellt wurden.
Die "guided activity", die anhand eines Arbeitsblattes eine klaren Arbeitsauftrag für die Lernenden bereit hält, wurde auch von ihnen überwiegend als frustrierend und einengend erlebt. Die StudentInnen bemängelten den fehlenden Freiraum für Experimente und beschwerten sich über die Rezeptangaben für den Schaum: Diese seien von den Begleitern nicht überprüft und korrigiert worden. Auch bei dieser Gruppe wurde Konkurrenzdenken angemerkt; dieser entstand so die StudentInnen weil die Aufgabe Einschätzungen wie richtig und falsch ermöglichte. Ihre Arbeitsweise bezeichneten viele als "handeln ohne denken" oder als "Suche nach der richtigen, gewünschten" Antwort. Die Kleinschrittigkeit des Vorgehens demotivierte und gab den meisten Studierenden das Gefühl, hier kaum etwas gelernt zu haben.
Die zweite Station wurde durchweg als spannender und lustvoller erlebt. Die Herausforderung einen 30 cm hohen Schaumturm zu bauen motivierte und regte zu verschiedenen Wegen an. Aber auch hier spürten die "Schaumschläger" Konkurrenzdruck und waren enttäuscht, wenn sie das Ziel nicht erreichen konnten. Was sie hierbei über Schaum lernten, zeigte sich differenzierter, als bei der vorhergehenden Station: die Schaumdichte entscheidet maßgeblich über die Höhe des Turms, schwerer Schaum unten leichter Schaum oben; je mehr Luft im Schaum um so leichter ist er; abgestandener Schaum macht sich besonders gut, da hier bereits viel Flüssigkeit herausgelaufen ist...
Die inquiry-Station eröffnete bei einer so großen Teilnehmerzahl eine unglaubliche Fülle von verschiedenen Fragestellungen. Den Weg eine eigene Frage zu finden beschrieben die StudentInnen ähnlich wie die Workshop-Teilnehmerinnen der Tagung: Auch sie erlebten Verunsicherung und Planlosigkeit, nahmen die Materialfülle als überforderung wahr, hatten das Gefühl, belanglos herumzuprobieren; andere konnten den Freiraum nutzen und eigenen Interessen nachgehen. Diesen Lernenden war die Zeit zu kurz und das Materialangebot nicht ausreichend. Sie hatten ihren Zugang gefunden und wollten nun mehr über Konsistenz von Schaum, seine Bestandteile, seine Modellierbarkeit, den pH-Wert etc. herausfinden. Die ersten Erkenntnisse waren entsprechend der verschiedenen Fragerichtungen vielfältig und die Studentinnen fanden es bemerkenswert, dass die Anzahl der Fragen während der Beschäftigung mit der Sache und den Gesprächen darüber ständig wuchs.
Den Studentinnen und Studenten, die bereits an einem mehrtägigen Workshop zum Entdeckenden Lernen teilgenommen hatten, fiel die Arbeit an der inquiry-Station leichter, als vielen von denen, die zum ersten Mal mit einem solchen Arrangement konfrontiert waren.
3.2 Folgerungen
aus den Reflexionen und Beobachtungen:
"Freiräume nicht nur aushalten, sondern (...) nutzen und genießen"
Alle Workshop-TeilnehmerInnen - die Tagungs-Teilnehmerinnen und die Studierenden - machen deutlich, dass der zunehmende Grad an didaktischer Offenheit im Verlauf der drei Stationen für sie deutlich spürbar wird. Sie sehen sich mit anderen Herausforderungen konfrontiert. Gleichzeitig wächst die Auseinandersetzung darüber, was sie tun und warum sie es eigentlich tun, was schließlich zu einem erhöhten Maß an Unsicherheit bei der "inquiry activity" führt.
Die ausführlichen Reflexionen der Tagungs-Teilnehmerinnen zeigen, dass ihre jeweilige Lebenssituation und ihre aktuelle Befindlichkeit die Lernsituation stark beeinflussen bzw. hier als Deutungsfolien der Erfahrung dienen. Dies gilt besonders für die Station "Entdeckendes Lernen" und hier insbesondere für die Anfangsphase, die auch bei ihnen wie bereits gesagt - mit einer hohen Unsicherheit verbunden war. Dabei werden vielschichtige biographische Lernerfahrungen virulent, die den individuellen Zugang zur Sache mitbestimmen: insbesondere das eigene schulische Lernen und die Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Fragen scheinen dabei eine große Rolle zu spielen.
Die Lernenden bemerken bei der Möglichkeit zum Entdeckenden Lernen wie schwierig es ist, sich auf Eigenes zu besinnen, die eigenen Gedanken ernst zu nehmen: Zu sehr sind Wertungen und Wertmaßstäbe von außen internalisiert, die zu belastenden inneren Dialogen führen, wie sie in den Reflexionen - und besonders bei Silke - gut sichtbar werden. Demnach scheint nicht nur wichtig, wieder Vertrauen in die eigenen Denk- und Frageprozesse aufzubauen, sondern auch Vertrauen in eine organisierte Lernsituation zu haben. Die Lernenden müssen zunächst erfahren, dass sie auch in institutionalisierten Lernkontexten (wie auch der Tagungskontext einer ist) Raum für eigene Fragen und Interessen haben und ihre Suche nach Sinn ernst genommen wird.
Es zeigt sich, dass die Teilnehmerinnen es auch in dem engen vorgegebenen Rahmen geschafft haben, etwas für sie Bedeutsames zu tun und diese Situation als eine besondere wahrzunehmen. Die Schilderungen machen die komplexe und individuelle Rekonstruktion dieses Moments deutlich. Insbesondere durch das Erleben der verschieden arrangierten Arbeitskontexte - guided, challenge, inquiry - und deren vergleichende Analyse werden den Teilnehmerinnen ihre Lernmuster und Lernerfahrungen, ihre Rollen als Lernende bewusst.
Fast schmerzlich mutet die Reflexion darüber an, wieso Freiräume eine so beunruhigende Wirkung erzeugen und was geschehen muss, um diese "nicht nur aushalten, sondern auch nutzen, also gestalten und genießen zu können" (Judith). Diese Erfahrungen und Reflexionen verdeutlichen einmal mehr, dass der Prozess der Fragefindung, des Gewahrwerdens eigener Interessen und deren Umsetzung in persönlich bedeutsame Lernprozesse, eine ganz eigene Qualität und Komplexität besitzt und meist schwieriger ist, als einer vorstrukturierten Aufgabe zu folgen.
Für mich werden dabei insbesondere sechs Aspekte im Hinblick auf die Aktualisierung des Selbst durch eigene Fragen und Interessen sichtbar, die auch für die Diskussion der Begleitung dieser Prozesse von Bedeutung sind:
....vertrauensvolle Atmosphäre schaffen:
....das Gespräch suchen bzw. anbieten:
...Distanz wahren:
Entdeckendes Lernen bietet eine Alternative zum traditionellen Lehr- und Lernverständnis. In vieler Hinsicht weist Entdeckendes Lernen m.E. Parallelen zu Holzkamps Entwurf eines expansiven Lernens auf.
Die Kritikpunkte, die Holzkamp in Bezug auf das Konzept Entdeckenden Lernens (in Anlehnung an Bruner 1973) formuliert, halte ich für wichtige Diskussions- und Brennpunkte pädagogischen Handelns. Sie treffen aber m. E. nicht den Kern Entdeckenden Lernens - so wie ich das Konzept eingangs skizziert habe. Ich habe ein Bild dieses pädagogischen Ansatzes gezeichnet, das sich einerseits bestimmter konzeptueller Schwierigkeiten, Paradoxien und Brüche bewusst ist und andererseits sich durch die langjährige, internationale Entwicklung so verändert hat (und darüber hinaus weiterentwickelt), dass Holzkamps Kritik z.T. ins Leere läuft.
Produktiv erscheint mir, sich mit Holzkamps Theorien im Zusammenhang mit dem Motiv bzw. der Motivation des Lernenden als Einstieg in einen persönlich bedeutsamen Lernprozess zu beschäftigen und diese Betrachtungen in die weitere Entfaltung des Ansatzes Entdeckenden Lernens einzubeziehen.
Bei beiden Ansätzen bzw. Konstrukten - der kritischen Psychologie Klaus Holzkamps sowie dem Konzept Entdeckenden Lernens - kommt es darauf an, was die Vertreter der jeweiligen Richtung in ihren jeweiligen Arbeitskontexten daraus machen: Werden die Konzepte dogmatisch verfochten, werden sie nicht der interdisziplinären "Theorie- bzw. Praxisdusche" ausgesetzt, so können die fruchtbaren Ansätze sicherlich nur wenig helfen, pädagogisches Handeln in der heutigen schulischen Realität weiterzuentwickeln.
Offenheit und Kooperation ist daher nicht nur eine Forderung an Dritte, sondern auch ein Gebot, das sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selbst auferlegen sollten. Denn wahrscheinlich gibt es weder die richtige Lerntheorie noch die richtige Gesellschaftsordnung, noch die richtige wissenschaftstheoretische Grundhaltung. Deshalb überlasse ich Heinz von Foerster das letzte Wort:
"Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners!"
(1)
Das Schreiben dieses Artikels wäre ohne die Mitarbeit der Teilnehmerinnen
der Arbeitsgruppe (an späterer Stelle werden sie Anna, Judith und Silke
genannt) nicht möglich gewesen. Für die motiviert geführten
Diskussionen und insbesondere für die differenzierten und sehr offenen
schriftlichen Rückmeldungen bedanke ich mich an dieser Stelle noch einmal
ganz herzlich.
Ich möchte
in diesem Zusammenhang auch auf die hervorragende Zulassungsarbeit von Simone
Straub (1999) hinweisen, die den Titel "Subjekt sein in Lernprozessen" trägt
und sich vergleichend mit der Theorie Klaus Holzkamps, Ansätzen systemisch/konstruktivistischer
Pädagogik und dem Entdeckenden Lernen beschäftigt.
(2) Vgl. hierzu aus der Fülle der Literatur: Ernst, K. (1987), (1990a), (1996); Ernst, K./Zocher, U. (1994), Foerster, H. v. (1993)
(3) Vgl. hierzu: Science 5/13 (1973), The ESS-Reader (1970), Weber, L. (1971), Klewitz, E./Mitzkat, H. (1977), Alberty, B. (1997)
(4) Aus der Fülle der Literatur zum Thema "conceptual change" sei hier auf folgende Arbeiten verwiesen: Watson/Kopnicek (1990), Köhnlein, W. et al. (1996).
(5) Es ist hier sicherlich nicht der Ort, um den Ansatz Entdeckenden Lernens ausreichend differenziert zu entfalten und die Abgrenzungen zu anderen Formen schülerorientierten, offenen Lernens darzustellen. Dies wird u.a. bei Peschel, F. (1996) und Brügelmann, H. (1998) getan.
(6) Dieser Lernprozess ist ausführlich bei Ernst, K. (1997a) dargestellt. Andere ausführliche Beschreibungen entdeckender Lernprozesse siehe Ernst, K. (1997b), Zocher, U. (1999). Eine Vielzahl unveröffentlichter Dokumentationen von Workshop-TeilnehmerInnen sowie eine Video-Dokumentation sind in der Lernwerkstatt an der TU-Berlin einzusehen.
(7) Die Schreibweise "entdeckendes Lernen" mit kleinem -e- orientiert sich an der Schreibweise bei Holzkamp bzw. Bruner, J. (1973).
(8) Vgl. Bruner, J. (1962): On Knowing. Essays for the Left Hand. Cambridge, MA: Harvard University Press. Hier im Original. Bruner, "The Act of Discovery", S. 81-95
(9)
Exploratorium Institute for Inquiry 1997: Foam Activity. ((https://netra.exploratorium.edu/IFI/activities/foam/foamtext.html)
Exploratorium Institute for Inquiry, 1998: The Process Circus:
Developing the Process Skills of Inquiry-Based Science. (https://netra.exploratorium.edu/IFI/
activities/processcircus/circusfulltext.html)
(10) Die vierte Teilnehmerin stand zur Zeit des Workshops und danach unter hoher Arbeitsbelastung, die eine schriftlich Äußerung nach ihren Angaben - verhinderte. Wir hatten jedoch die Gelegenheit über die Workshop-Erfahrung zu sprechen.
Alberty, B. (Ed.)(1997): Lillian Weber: Looking Back and Thinking Forward. Teachers College Press, Columbia University, New York, London
Brügelmann, H. et al. (Hrsg.) (1998): Jahrbuch Grundschule. Arbeitskreis Grundschule Der Grundschulverband - e.V., Seelze/Velber: Friedrich Verlag
Duckworth, E., (1987): The Having of Wonderful Ideas and Other Essays on Teaching and Learning, Teachers College Press, New York, London
Ernst, K. (1987): "Was ist Entdeckendes Lernen?" In: Fragen und Versuche 42/1987, S.63-72
Ernst, K. (1990a): "Das Einfache, das schwer zu machen ist - Erwachsene lernen wie Kinder." In: Die Grundschulzeitschrift 35, Juni 1990, S. 29-32
Ernst, K. (1990b): "Kinderfragen - Ein Beispiel zum Zusammenhang von Entdeckendem Lernen und persönlichem Motiv"; in: päd.extra & demokratische Erziehung 5/1990, S. 3
Ernst, K. (1996): "Den Fragen der Kinder nachgehen"; in: Die Grundschulzeitschrift, Heft 95/1996, Friedrich Verlag, S. 6-12
Ernst, K. (1997a): "Blütenstaub und Fibonacci-Folge - Einblicke in das Entdeckende Lernen von Erwachsenen", in: Die Lernwerkstatt Eine lebendige Verbindung von Kreativität und Lernen; Materialien für die sozialpädagogische Praxis 28; Eigenverlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, S. 23-41
Ernst, K. (1997b): "Farben entdecken - Lernen entdecken", in: Die ganze Welt begreifen - Wie lernen Kinder? Dokumentation der Tagung 11.-12.9.1997; Hrsg.: Amt für Kindertageseinrichtungen der EkiBB, Berlin
Ernst, K./Zocher, U. (1994): "Entdeckendes Lernen - Erfahrungen mit einem anderen Lehr- und Lernkonzept in der Lehrerausbildung"; in: Knigge-Illner/Kruse (Hrsg.): Studieren mit Lust und Methode. Deutscher Studien Verlag, Weinheim, S. 185-214
Foster, J. (1993): Entdeckendes Lernen in der Grundschule, 2. Veränderte Ausgabe von G. Neff, Ehrenwirth/Veritas, München
Harlen, W. (Ed.), (1992): Education for Teaching Science and Mathematics in the Primary School, Scottish Council for Research in Education, Edinburgh
Hawkins, D. (1970): "Messing about in Science", in: The ESS Reader, Newton, MA: Education Development Center, S. 37-44
Holzkamp, K. (1995): Lernen: Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Frankfurt/Main, New York: Campus Verlag
Kahl, R. (1999): "Der Neugierologe", in: GEO Wissen: Denken, Lernen, Schule. Heft 1/1999, 106-109
Klewitz, E./Mitzkat, H. (1977): Entdeckendes Lernen und Offener Unterricht, Braunschweig: Westermann
Köhnlein, W. et al. (Hrsg.) (1997): Kinder auf dem Wege zum Verstehen der Welt. Bad Heilbrunn:Klinkhardt
Morrison, P. und Morrison, P. (1984): "Primary Science: Symbol or Substance?" In: The 1984 Catherine Melony Memorial Lecture. New York: City College Workshop Center
Neber, H. (Hrsg.) (1973): Entdeckendes Lernen. Weinheim:Beltz
Peschel, F. (1996): "Offener Unterricht am Ende oder erst am Anfang?", Bericht No.2 Projekt OASE, zu beziehen über Universität Gesamthochschule Siegen, FB 2
Science 5/13, "With Objectives in Mind", London:Macdonald Educational (1973)
Schütze, F. (1992): "Sozialarbeit als bescheidene Profession". In: Dewe, Ferchhoff, Radke (Hrsg.): Erziehen als Profession. Zur Logik professionellen Handelns in pädagogischen Feldern. Leske und Budrich, Opladen
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The ESS-Reader, Elemtary Science Study of Education Development Center. INC., Newton MA: Education Development Center (1970)
von Foerster, H./Pörksen, B. (1998): Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners: Gespräche für Skeptiker. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme
Watson, B./Kopnicek, R. (1990): "Teaching for Conceptual Change: Confronting Childrens Experiences"; TEN Resource Library; übersetzt von U. Zocher (1998): "Unterricht für und durch "conceptual change":.."; in: Spinne 48/1998, S. 7-18; zu beziehen über die Lernwerkstatt TU-Berlin oder U. Zocher PH-Heidelberg
Weber L. (1971): The English Infant School and Informal Education, Englewood Cliffs, New Jersey
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Zocher, U. (2000): Entdeckendes Lernen lernen. Auer Verlag:Donauwörth
Adresse der Verfasserin:
Dr. Ute Zocher, Rom
eMail: ute.zocher@epost.de