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Eleanor Duckworth

Wundervolle Ideen haben

Die Originalfassung ist erschienen in:
Eleanor Duckworth: The Having of Wonderful Ideas. In: E.D., "The Having of Wonderful Ideas" and Other Essays on Teaching and Learning." New York/London: Teachers College Press 1987, S. 1-14.

Aus dem Amerikanischen übertragen von Karin Ernst
Veröffentlicht in:
Begegnungen. Dokumentation der Lernwerkstätten-Tagung in Ludwigsfelde 1995. Wolfsburg: Immen-Verlag 1996. S. 126-137. © für die Übersetzung: Karin Ernst 1996, 2001.


Kevin, Stephanie und der Mathematiker
Hank
Was Schulen leisten können
Eine Evaluationsstudie
Schlussfolgerungen
Literaturhinweise

Kevin, Stephanie und der Mathematiker

Zusammen mit einem Freund sah ich noch einmal einige klassische Piaget'sche Interviews durch, die ich mit einigen Kindern durchgeführt hatte. Eines davon handelte vom Ordnen von Längen. Ich hatte 10 Plastikstrohhalme in verschiedene Längen geschnitten und die Kinder gebeten, sie zu ordnen, von groß nach klein. Die ersten beiden 7-jährigen hatten es ohne große Schwierigkeiten und mit wenig Interesse getan. Dann war Kevin gekommen. Bevor ich überhaupt ein Wort über die Strohhalme sagen konnte, hob er sie auf und sagte zu mir: "Ich weiß, was ich mache", und begann von sich aus, sie der Länge nach zu ordnen. Er hatte nicht gemeint "Ich weiß, was Du mich jetzt fragen willst," sondern "Ich habe eine wundervolle Idee, was ich jetzt mit diesen Strohhalmen mache. Du wirst überrascht sein, wie toll meine Idee ist."

Es war nicht einfach für ihn. Er probierte und scheiterte des öfteren, als er sich daran machte, sein System zu entwickeln. Aber er war so glücklich, als er die Aufgabe bewältigt hatte, die er sich gestellt hatte, daß er, als ich ihm sagte, er könne die Strohhalme behalten (10 ganze Strohhalme!), vor Freude strahlte, sie ein oder zwei speziellen Freunden zeigte, und sie dann zu seinen anderen Schätzen in einen Schuhkarton legte.

Wundervolle Ideen zu haben, ist, wie ich meine, der Kern der intellektuellen Entwicklung. Und ich denke, es sollte der Kern aller Pädagogik sein, Kevin die Möglichkeit zu geben, seine wundervollen Ideen zu haben und sich über seinen Erfolg zu freuen. Um diese These zu entwickeln und um zu zeigen, was dies alles für mich mit Piaget zu tun hat, muß ich mit ein wenig Autobiographie beginnen, und dafür entschuldige ich mich, aber es war für mich eine langjährige Auseinandersetzung, bis ich herausfand, auf welche Weise Piaget überhaupt für die Schule relevant werden kann.

Ich hatte noch nicht einmal von Piaget gehört, als ich das erste Mal in seinem Seminar saß. Piaget gewann mich in seiner Eigenschaft als Philosoph für sich, und ich blieb für zwei Jahre als graduierte Studentin und Forschungsassistentin in Genf. Einige Jahre später rückten Schulen in den Mittelpunkt meines Interesses, als ich nach dem Abbruch meiner Promotion einen Job bei der Entwicklung eines Curriculums für den naturwissenschaftlichen Unterricht in der Grundschule annahm und mich in einem Kreis hochinteressanter Pädagogen wiederfand.

Die KollegInnen, die ich am meisten bewunderte, kamen sehr gut ohne besondere psychologische Kenntnisse aus. Sie verließen sich auf ihre eigenen Einsichten in das "Wie" und "Wenn" kindlichen Lernens, und damit hatten sie Recht: Diese Einsichten waren hervorragend. Piaget gegenüber waren sie besonders mißtrauisch. Er war zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf dem Titelblatt der Saturday Review oder des New York Times Magazine zu sehen gewesen, und sie hatten ihr eigenes Bild von ihm: Ein strenger, humorloser Intellektueller, der ein kleines Kind mit Fragen konfrontiert, die dem Kind mit Sicherheit unverständlich sind, während es versucht, an dem Ausdruck seiner Augen zu erkennen, was es antworten soll. Kein Wunder, daß das Kind nicht richtig denken konnte! (Einige KollegInnen fanden Piaget erst ihres Interesses würdig, nachdem sie ein Foto von ihm gesehen hatten. Er mochte vielleicht Schweizer sein, aber er sah gar nicht aus wie Calvin! Vielleicht war er letzlich doch in der Lage, mit Kindern zu reden.)

Ich persönlich wußte überhaupt nicht, was ich denken sollte. Meine KollegInnen schienen nicht schlechter zu arbeiten, obwohl sie Piaget nicht ernst nahmen. Und ich schien, wie ich zugeben mußte, deshalb auch nicht besser zu arbeiten. Im Vergleich zu Psychologischen Laboratorien waren Schulen ausgesprochen komplizierte Orte, und mir war lange Zeit nicht klar, worin meine besondere Unterstützung bestehen könnte. Piaget schien nicht nur irrelevant zu sein, inzwischen war ich mir noch nicht einmal mehr sicher, ob er überhaupt Recht hatte. Ein, zwei Jahre lang erwähnte ich ihn nur noch selten und versuchte nur ganz allgemein, die Arbeit in den Schulen zu unterstützen. Ich kann mich an keinen einzigen Fall erinnern, bei dem ich mich direkt auf Piagets Untersuchungen berufen hätte.

Der Tiefpunkt kam, als eine meiner Kolleginnen mir strahlend einen Aufsatz zeigte, den Stephanie, ein 6-jähriges Mädchen aus der ersten Klasse, geschrieben hatte. Die Kinder hatten dünne Röhren untersucht und sich die Unterschiede in der Höhe des Wasserstands in Abhängigkeit vom Durchmesser der Röhren angesehen. Stephanie schrieb folgendes: "Ich weiß, warum es so aussieht, als wenn mehr Wasser in der dünnen Röhre ist. Weil es darin höher steht. Aber die andere ist dicker, also sind sie gleich."

Meine Kollegin nahm diese Aussage triumphierend als einen Beweis dafür, daß 6-jährige fähig sind, über das Kompensieren zweier Dimensionen zu argumentieren. Ich wußte nicht, was ich dazu sagen sollte. Natürlich hätte ich mir die Antwort einfach machen können. Einige 6-jährige können über Kompensation argumentieren. Die Altersangaben, die Piaget macht, sind nur Durchschnittswerte und nicht Universalien. Kinder entwickeln sich mit den unterschiedlichsten Geschwindigkeiten, die einen schneller, die anderen langsamer. Aber ich war zu diesem Zeitpunkt so verunsichert, daß mich dieser Vorfall tief erschütterte und sich diese Argumente für mich nur nach einer lahmen Ausrede anhörten.

Später möchte ich zu diesem Vorfall mehr sagen. Fürīs erste will ich jedoch einfach nur versuchen, meinen Kampf beschreiben.

Selbst wenn ich geglaubt hätte, daß Piaget Recht hat, wie hätte er hilfreich sein können? Wenn das Wichtigste, was wir von Piaget lernen können, die Tatsache ist, daß Kinder vor einem bestimmten Alter nicht in der Lage sind, gewisse Dinge zu verstehen - Konservation, Verwandlung, räumliche Koordinaten, etc. - was machen wir dann damit? Versuchen wir, den Kindern diese Sachen beizubringen? Wahrscheinlich nicht, denn einerseits führt uns Piaget zu der Vermutung, daß wir damit nicht sehr viel Erfolg haben werden; andererseits ist das, was wir von Piaget wirklich gelernt haben, die Tatsache, daß Kinder sich auf ihre eigene Weise ein Verständnis dieser Begriffe aneignen werden. Wir brauchen uns darum nicht zu sorgen. Ich brauchte ein paar Monate, ehe mir das klar wurde, aber ich schloß daraus, daß dies kein sehr guter Weg war, Piaget zu benutzen.

Eine andere Möglichkeit hätte sein können, die begrenzten Fähigkeiten der Kinder beim Klassifizieren, Konservieren, Ordnen, usw. im Kopf zu haben, wenn wir darüber entschieden, was wir ihnen in einem bestimmten Alter beibringen wollten. Dies, fand ich aber, war ein unzureichendes Kriterium. Es gab noch so viel mehr zu bedenken. Das offensichtlichste war natürlich, daß in jeder Klasse in jedem Alter eine große Vielfalt an Entwicklungsstufen vertreten war. Wenn man versucht hätte, den Unterricht auf einen durchschnittlichen Grad der Entwicklung zuzuschneiden, hätte man mit Sicherheit viele der Kinder übergangen. Hinzu kam, daß eine Piagetīsche Psychologin hier kein Monopol hatte. Bei der Einschätzung der Fähigkeiten einer bestimmten Gruppe von Kindern eines bestimmten Alters konnten fähige LehrerInnen, wie meine KollegInnen es waren, genauso gut urteilen wie ich.

Was ich am reizvollsten fand, war, daß die Menschen, mit denen ich zusammenarbeitete, die curricularen Vorschläge danach beurteilten, wie gut sie in der Klasse funktionierten. Das heißt, sie bestimmten nicht vorab, was die Kinder wissen sollten oder was sie in einem bestimmten Alter können sollten, sondern sie fanden Aktivitäten, Unterrichtsentwürfe, Startpunkte, die Kinder in wirklichen Klassen mit richtigen LehrerInnen erprobten. Ihrer Meinung nach war es einfach, einen allumfassenden Entwurf für - in unserem Fall - den naturwissenschaftlichen Unterricht zu entwickeln, aber schwierig, ihn pädagogisch in den verschiedenen Klassen zu realisieren. Sie fingen mit diesem schwierigen Teil an. Eine Theorie der intellektuellen Entwicklung hätte vielleicht den theoretischen Rahmen für ein Curriculum abgeben können. Gemessen an dem Ziel, dieses Curriculum in den Klassen handhabbar zu machen, war ihr Beitrag jedoch gering gegenüber dem Finden verschiedener Wege, Kinder zu interessieren, ihre verschiedenen Fähigkeiten und Interessen zu berücksichtigen, LehrerInnen zu helfen, die keine besondere Ausbildung auf diesem Gebiet hatten, usw. Also lag der Schwerpunkt dieses curricularen Entwicklungsprojekts auf den Versuchen in der Klasse. Das Kriterium war, ob die Entwürfe funktionierten, und ihr Funktionieren hing nur zum Teil davon ab, ob sie auf dem richtigen intellektuellen Niveau für die Kinder waren. So hätten sie z.B. im Hinblick auf ihre intellektuellen Anforderungen ganz großartig sein und trotzdem in anderer Hinsicht versagen können. Meistens war es eine komplexe Kombination.

Als ich darum kämpfte, einen sinnvollen Rahmen zu finden, in dem mein Wissen von Piaget von Nutzen sein konnte, fand ich, mehr oder weniger durch Zufall, heraus, daß ich selber nützlich werden konnte. Als Beobachterin bei einem Teil des Versuchsunterrichts und später selbst als Versuchslehrerin stellte ich fest, daß ich offensichtlich Talent darin hatte, Kinder zu beobachten und ihnen zuzuhören, und daß ich ganz gut wahrnehmen konnte, wie Kinder ein Problem wirklich sahen. Das führte zu einem gewissen Können, Fragen zu stellen, die für die Kinder Sinn machten, oder dazu, neue Orientierungen für die gesamte Aktivität zu finden, die eher mit der Sichtweise der Kinder korrespondierten. Ich will nicht behaupten, daß ich damit einzigartig war. Viele der LehrerInnen, mit denen ich zusammenarbeitete, hatten ähnliche Einsichten, genauso wie viele MathematikerInnen und WissenschaftlerInnen unter meinen KollegInnen, die von ihrem Standpunkt aus sehen konnten, wann Kinder etwas anders betrachteten als sie selbst. Aber die Frage, ob ich einzigartig war, ist nicht wirklich wichtig. Durch meine Erfahrung mit Piaget, durch die ich eng mit einzelnen Kindern gearbeitet und dabei versucht habe, genau herauszubekommen, was wirklich in den Köpfen der Kindes vorging, hatte ich mir selbst einen wunderbaren Hintergrund erarbeitet, um gegenüber den Kindern in der Klasse sensibel zu sein. Ich glaube, daß ein gewisses Maß an Erfahrung mit solcher Einzelarbeit für jede/n Lehrer/in von Nutzen sein kann.

Diese Sensibilität gegenüber Kindern im Unterricht war für meine weitere Entwicklung zentral. Als Rahmen für mein Nachdenken über Lernen blieb Piaget von unschätzbarem Wert. Mein Verständnis wurde jedoch vertieft durch die konkrete Arbeit mit LehrerInnen und Kindern. Ich kann vielleicht etwas Licht auf diese gegenseitige Beziehung werfen, wenn ich mich wieder auf den Aufsatz der 6-jährigen Stephanie über die Kompensation beziehe. Nur wenige von uns würden, wenn wir beobachten, wie Wasser in dünnen Röhren von unterschiedlichem Durchmesser hochsteigt, sich die Mühe machen zu fragen, ob die Wassermenge überall gleich ist. Niemand hatte Stephanie gebeten, diesen Vergleich anzustellen, und vom Hinsehen allein ist es auch nicht möglich, eine solche Aussage zu machen. Stephanie fühlte von sich aus, daß es wichtig war, auf diesen Tatbestand hinzuweisen. Ich nehme das als Hinweis dafür, daß das für sie eine wundervolle Idee war. Noch kurz zuvor hatte sie geglaubt, daß in der Röhre mehr Wasser war, in der das Wasser höher stand. Sie hatte gerade ihren eigenen intellektuellen Kampf auf diesem Gebiet gewonnen, und sie wollte ihre Entdeckung der Welt mitteilen - zum Wohle derer, die sonst vielleicht auch vom äußeren Eindruck getäuscht werden könnten.

Dieses Ereignis half mir, nachdem es mir gelungen war, es wirklich zu verstehen, über einen Punkt nachzudenken, der mich an einer von Piagets Anekdoten gestört hatte. Vielleicht erinnern Sie sich an Piagets Erzählung über den Freund und Mathematiker, der ihn zu seinen Studien über das Konservieren von Zahlen inspiriert hatte. Dieser Mann erzählte Piaget von einer Begebenheit in seiner Kindheit, als er eine Reihe Kieselsteine zählte, die er in einer Linie ausgelegt hatte. Nachdem er sie von links nach rechts gezählt hatte, und herausgefunden hatte, daß es 10 waren, wollte er wissen, wieviele es wären, wenn er von rechts nach links zählen würde. Neugierig, weil er immer noch 10 hatte, legte er sie in ein anderes Muster und zählte sie wieder. Er legte sie immer wieder anders hin und zählte sie immer wieder, bis er feststellte, daß, egal wie er sie hinlegte, er immer wieder 10 haben würde. Die Zahl ist unabhängig von der Reihenfolge, in der man zählt.

Mein Problem war folgendes: Nach Piaget ist es so, daß, wenn 10 Eier so hingelegt werden, daß sie mehr Raum einnehmen als 10 Eierbecher, ein klassischer Nichtkonservierer behaupten würde, daß mehr Eier als Eierbecher vorhanden sind, auch wenn er beide nachzählen würde. Das Zählen reicht nicht aus, um ihn zu überzeugen, daß genügend Eierbecher für alle Eier vorhanden sind. Wieso war dann das Zählen für den Mathematiker ausreichend? Wenn er zu dem Zeitpunkt ein Nichtkonservierer war, hätte das Nachzählen keinen Unterschied machen sollen. Wenn er ein Konservierer war, hätte er von Anfang an wissen müssen, daß immer das Gleiche herauskommen würde.

Ich glaube, daß das ganze Unternehmen seine eigene wundervolle Idee war. Er stellte sich selbst eine solche Frage, und er fand selbst heraus, wie er sie beantworten konnte. Ich will damit sagen, daß er in einem Moment des Übergangs war, genauso wie Stephanie und Kevin. Er war an einem Punkt angelangt, wo bestimmte Erfahrungen zu bestimmten Gedanken paßten und ihn einen Schritt voran brachten. Hieraus kann eine tragende pädagogische Erkenntnis gewonnen werden. Die drei Beispiele unterstreichen dies dramatisch, weil sie von Kinder handeln, die sich im Sinne Piagets Begriffe aneignen, die man normalerweise nur schwer auf der Grundlage von Erfahrung erlangen kann. Diese Erkenntnis hat zwei Aspekte: Erstens, die richtige Frage zur richtigen Zeit kann Kinder zu Höhepunkten in ihrem Denken bringen, die bedeutende Schritte nach vorn und wirkliche intellektuelle Spannung zur Folge haben; und zweitens, obwohl es fast unmöglich für einen Erwachsenen ist, genau zu wissen, wann er oder sie eine bestimmte Frage einem bestimmten Kind stellen soll - besonders für eine Lehrerin, die sich um 30 Kinder kümmern muß - können sich Kinder selbst die richtige Frage stellen, wenn die Situation stimmt. Wenn die richtige Frage erst einmal gestellt ist, bemühen sie sich bis zum Äußersten, eine Antwort zu finden. In keinem unserer Fälle fiel ihnen die Antwort leicht, aber die Kinder waren bereit dazu, an ihr zu arbeiten. Vertrauen in seine eigenen Ideen zu haben, bedeutet nicht "Ich weiß, daß meine Ideen richtig sind"; sondern "Ich bin bereit, meine Ideen auszuprobieren".

Während ich mir einen Reim auf Erfahrungen wie diese machte und über sie weiter nachdachte, begann ich, einige eigene Ideen darüber zu entwickeln, was Erziehung sein konnte, und welche Beziehungen es zwischen Erziehung und intellektueller Entwicklung gab.

Hanknach oben  

Es ist eine Binsenweisheit, daß Kinder in ihren ersten beiden Lebensjahren riesige intellektuelle Fortschritte machen. Piaget hat diese Fortschritte von seinem eigenen Standpunkt aus dokumentiert, aber auch alle Eltern und alle Psychologen wissen, daß es so ist. Eine Frage, die immer wieder auftaucht ist, warum sich die intellelektuelle Entwicklung bei zahlreichen Kindern später verlangsamt. Was passiert mit der Neugier und dem Einfallsreichtum der Kinder, wenn sie älter werden? Warum haben nur so wenige dann weiterhin ihre eigenen wundervollen Ideen? Ich glaube, daß ein Teil der Antwort darin liegt, daß die intellektuellen Durchbrüche mit zunehmendem Alter immer weniger gewürdigt werden. Sie werden entweder als trivial verworfen - wie es einige Erwachsene wahrscheinlich bei den Ideen von Kevin oder Stephanie oder des Mathematikers getan hätten -, oder die Kinder werden entmutigt, weil ihre Ideen nicht akzeptabel sind - wenn sie z.B. damit experimentieren, wie es sich anfühlt, Schuhe an den falschen Füßen zu haben, oder wenn sie Fragen stellen, die gesellschaftlich peinlich sind, oder wenn sie etwas zerstören, damit sie sehen können, wie es von innen aussieht. Die Wirkung davon ist, daß die Kinder sich nicht mehr trauen, ihre eigenen Ideen zu erkunden, und daß sie schließlich denken, sie hätten keine wichtigen Ideen, sondern nur alberne oder gemeine.

Aber ich glaube, daß es mindestens noch einen weiteren Aspekt zu beachten gibt. Wundervolle Ideen entstehen nicht aus dem Nichts. Sie bauen auf einem Fundament von anderen Ideen auf. Das folgende Beispiel erklärt vielleicht, was ich meine.

Hank war ein energischer und nicht sehr gelehrsamer Fünftklässler. Seine Klasse arbeitete am Thema "Elektrischer Stromkreis" mit Batterien, Glühbirnen und verschiedenen Drähten. Nachdem die Kinder eine beträchtliche Vertrautheit mit diesen Materialien erworben hatten, bereitete die Lehrerin eine Anzahl von mysteriösen Kartons vor. Zwei Drähte guckten aus jedem Karton hervor, aber innen, unsichtbar, gab es in jedem Karton einen anderen Weg, auf dem die Kontakte zwischen den Drähten hergestellt worden waren. In einem Karton waren die Drähte an einer Batterie befestigt; in einem anderen waren sie mit einer Glühbirne verbunden; in einem dritten mit einer gewissen Länge Widerstandsdraht; in einem vierten waren sie überhaupt nicht verbunden; usw. Indem die Kinder versuchten, den Kreislauf außerhalb des Kartons zu vervollständigen, waren sie in der Lage herauszubekommen, wie die Verbindung im Inneren des Kartons aussah. Hank verband, wie viele andere Kinder, eine Batterie und eine Glühbirne mit dem Draht außerhalb des Kartons. Da die Glühbirne leuchtete, wußte er wenigstens, daß die Drähte im Inneren des Kartons auf irgendeine Art verbunden sein mußten. Aber, weil es etwas schummeriger war als sonst, wußte er auch, daß die Drähte nicht direkt miteinander und auch nicht mit einem Kupferdraht verbunden sein konnten. Ebenso wie viele andere Kindern wußte er, daß der Grad der Schummerigkeit der Birne bedeutete, daß die Drähte im Inneren entweder mit einer anderen Birne der gleichen Art oder mit einem Stück Widerstandsdraht verbunden waren.

Die Lehrerin hatte erwartet, daß die Kinder nur bis zu diesem Punkt kommen würden. Um die Kinder aber anzuregen, ein bißchen weiter zu denken, fragte sie, ob sie erkennen könnten, ob eine Birne oder ein Stück Draht die Verbindung im Karton herstellen würde. Sie selbst glaubte, daß es keinen Weg gäbe, es zu erkennen. Nach einiger Zeit des Nachdenkens hatte Hank eine Idee. Er löste die Batterie und die Glühbirne, die er vorher außen am Karton befestigt hatte. Er ersetzte sie durch eine Serie von sechs Batterien, die er mit zusätzlichem Kupferdraht verband. Er hatte schon genug experimentiert, um zu wissen, daß sechs Batterien eine Glühbirne zum Durchbrennen bringen würden, falls eine im Inneren des Kartons wäre. Er wußte auch, daß, wenn eine Glühbirne ausgebrannt ist, sie den Stomkreis nicht mehr schließt. Zum Schluß installierte er die Birne und die Batterie neu, die er schon beim ersten Experiment benutzt hatte. Jetzt leuchtete die Birne außen nicht mehr. Also schloß er folgerichtig, daß im Inneren des Kartons eine Glühbirne sein mußte, die jetzt durchgebrannt war. Wenn ein Draht im Innern des Kartons gewesen wäre, wäre er nicht durchgebrannt, und die Glühbirne hätte noch geleuchtet.

Beachten Sie bitte, daß Hank, um die Idee auszuführen, riskieren mußte, eine Glühbirne zu zerstören - was er dann tatsächlich getan hat. Indem die Lehrerin seine Idee akzeptierte, akzeptierte sie nicht nur die Tatsache, daß Hank eine gute Idee hatte, eine, die ihr noch nicht gekommen war, sondern auch, daß es in Ordnung war, ein kleines Teil zu zerstören, um dieser Idee nachzugehen. Das macht die Geschichte schon fast zu einer Parabel. Ohne eine solche Akzeptanz hätte Hank seine Idee nicht verfolgen können. Überlegen Sie nur, wie oft es im Leben von Kindern an dieser Akzeptanz fehlt.

Worauf es hier aber vor allem ankommt, ist die Tatsache, daß Hank, um auf seine Idee zu kommen, eine Menge über Batterien, Glühbirnen und Drähte wissen mußte. Seine vorherige Arbeit und Vertrautheit mit diesen Materialien waren notwendige Voraussetzungen, um ihm die Gelegenheit für eine wundervolle Idee zu geben. David Hawkins sagte in Bezug auf die Entwicklung von Curricula: "Man will ein Thema nicht abdecken; man will es aufdecken." (Hervorhbg. d. Ü.) Das, scheint mir, ist es, worum es in der Schule gehen sollte. Die Schule kann helfen, Teile der Welt aufzudecken, an die Kinder sich sonst nicht heranwagen würden. Wundervolle Ideen bauen auf anderen wundervolle Ideen auf. In Piagetīschen Termini: Man muß nach den Dingen der Welt mit seinen vorhandenen intellektuellen Werkzeugen greifen und das, was einem begegnet, selbst aktiv verarbeiten, assimilieren. Vieles ist uns verborgen, obwohl es uns umgibt, es sei denn, wir wissen, wie wir danach greifen können. Schulen und LehrerInnen können Materialien und Fragen so bereitstellen, daß sie zum Handeln auffordern; und Kinder kommen dann, während sie damit umgehen, gar nicht umhin, erfinderisch zu sein.

Das Schaffen von Gelegenheiten für wundervolle Ideen hat zwei Aspekte: einer davon ist die Bereitschaft, die Ideen von Kindern zu akzeptieren. Der zweite ist, eine Umgebung zu schaffen, die Kindern wundervolle Ideen nahebringt - verschiedenen Kindern verschiedene Ideen -, Ideen, die in intellektuellen Problemen enthalten sind, die für Kinder real sind.

Was Schulen leisten können nach oben

Ich hatte Gelegenheit, in Afrika ein naturwissenschaftliches Curriculum für die Grundschule zu evaluieren. Für den Zweck unserer Diskussion hätte es auch woanders stattfinden können. Obwohl es sich bei dem Programm keinesfalls um eine geplante Umsetzung Piagetīscher Ideen handelte, war es meines Erachtens trotzdem im besten Sinne eine solche Anwendung. Die Annahmen, auf der die Arbeit beruhte, trafen sich mit Überlegungen, wie ich sie hier entwickelt habe. Das Programm wollte den Kindern helfen, die Welt zu entdecken. Die Entwickler wollten die Kinder mit der materiellen Welt vertraut machen, - d.h. mit biologischen, physikalischen und technologischen Phänomenen wie Blitzlichtern, Moskitolarven, Wolken, Ton. Wenn ich hier von Vertrautmachen spreche, meine ich: die Kinder sollten sich mit diesen Dingen auskennen, sie sollten wissen, was sie von ihnen zu erwarten hatten, was man damit machen konnte, wie sie unter bestimmten Umständen reagieren, was einem an ihnen gefiel und was nicht, und wie man sie verändern, erhalten, zerstören oder weiterentwickeln konnte.

Natürlich ist die materielle Welt zu mannigfaltig und zu komplex, als daß ein Kind in seiner Grundschulzeit mit allem vertraut werden könnte. Was man bestenfalls tun kann, ist, dieses Wissen und diese Vertrautheit für das Kind interessant und erreichbar zu machen. D.h., man kann Kinder so an ein paar Phänomenen heranführen, daß dadurch ihr Interesse geweckt wird, daß sie ihre eigenen Fragen stellen und beantworten und daß sie merken, daß ihre eigenen Ideen wichtig sind - so daß sie das Interesse, die Fähigkeit und das Selbstbewußtsein haben, um alleine weiterzumachen.

Ein solches Programm ist zwar ein Curriculum, aber ein Curriculum mit einem Unterschied. Der Unterschied läßt sich am besten dadurch charakterisieren, daß das Unerwartete geschätzt wird. Anstatt von LehrerInnen und Kindern zu erwarten, daß sie immer nur das tun, was in den Anleitungen steht, erwartet das Programm von ihnen, so viele eigene Ideen zu den Materialien zu haben, daß sie die Anleitungen nicht einmal brauchen. Der Zweck, überhaupt Handreichungen zu entwickeln, besteht darin, Kinder und Lehrerinnen dazu zu bringen, ihre eigenen Ideen zu entwickeln und zu verfolgen und von den Vorschlägen anderer unabhängig zu werden oder über sie hinaus zu gehen. Obwohl es wahrscheinlich selten so komplett realisiert werden wird, repräsentiert dies die ideale Orientierung des Programms.

Es ist für LehrerInnen genauso wichtig wie für Kinder, Vertrauen in die eigenen Ideen zu haben. Es ist für sie als Menschen wichtig, und es ist wichtig, um frei zu sein, sich auf die Ideen der Kinder einzulassen. Wenn LehrerInnen denken, daß ihre Klasse die Dinge genauso tun muß, wie sie im Buch stehen, und daß davon ihr Können als LehrerInnen abhängt, dann können sie unmöglich die abweichenden Gedanken und Erfindungen der Kinder annehmen. Ein Handbuch für LehrerInnen sollte genügend Hinweise und Vorschläge enthalten, so daß die LehrerInnen Ideen für den Anfang haben und eine Ahnung, wie es weitergehen könnte. Aber es muß es ihnen auch ermöglichen, sich die Freiheit zu nehmen, in eine andere Richtung zu gehen, wenn er/sie das will.

Das LehrerInnenhandbuch für dieses Programm ("African Primary Science Program", d.Ü.) beinhaltet z.B. viele Dinge, die Kinder sowieso tun werden. Das Risiko dabei ist, daß LehrerInnen von den Kindern in ihrer Klasse erwarten, daß sie diese Dinge auch wirklich tun. Ob dies geschieht oder nicht, wird zum Maß für erfolgreiches oder erfolgloses Lernen. Eine andere Möglichkeit ist, als AutorInnen von LehrerInnen-Handbüchern einige der spannendsten Aktivitäten weglassen, weil sie fast immer passieren, auch wenn sie nicht geplant sind. Wenn der/die LehrerIn sie erwartet, erzwingt er/sie sie oft, und sie sind dann nicht mehr von der Spannung begleitet, die wundervolle Ideen kennzeichnet. Oft beschreiben die AutorInnen auch extreme Beispiele, manche so extrem, daß sie kaum jemals im Unterricht passieren werden. Diese Beispiele sollen die Botschaft beinhalten: "Sogar wenn die Kinder so etwas machen, ist es in Ordnung! Stellt euch vor, eine Klasse hat sogar das und das gemacht...!" Ein solches Vorgehen ist oft fruchtbarer als das Benutzen von üblicheren Beispielen, deren Botschaft meist lautet "So etwas sollte in eurer Klasse geschehen."

Die LehrerInnenhandbücher (des "African Primary Science Programs", d.Ü.) bezogen sich auf Materialien, die innerhalb und außerhalb der Schule zur Hand waren, und schlugen Aktivitäten vor, die mit diesen Materialien durchgeführt werden konnten, so daß die Kinder an ihnen Interesse gewannen und begannen, ihre eigenen Fragen zu stellen. Es gibt z.B. alltägliche Substanzen um uns herum, die die Ausgangsbasis für chemisches Wissen darstellen. Sie reagieren miteinander auf die interessanteste Weise, für uns alle zugänglich, wenn wir nur wissen, wie wir damit umgehen können. Das ist ein gutes Beispiel für einen Teil der Welt, der nur darauf wartet, von uns "aufgedeckt" zu werden. Wie kann dieses Wissen Kindern so nahe gebracht werden, daß sie auch über längere Zeit daran interessiert sind, mehr über die Sache herauszufinden, und daß sie dabei Gelegenheit haben, ihrer eigenen Initiative zu folgen und sich in diesem Teil der Welt zu Hause zu fühlen?

Das LehrerInnenhandbuch schlägt vor, mit Salz, Asche, Zucker, Stärke, Alaun, Zitronensaft und Wasser zu beginnen. Wenn diese Substanzen auf unterschiedliche Weise zusammen gemischt werden, entstehen manchmal Blasen. Bei welchen Kombinationen entstehen Blasen? Wie lange hält das Sprudeln an? Wie kann es in Gang gehalten werden? Welche anderen Substanzen verursachen Blasen? Wenn eine Kombination sprudelt - was kann hinzugefügt werden, um das Sprudeln zu stoppen? Andere Substanzen verändern ihre Farbe, wenn sie gemischt werden, und auch hier können ähnliche Fragen gestellt werden.

LehrerInnenhandbücher können aber nicht die ganze Last tragen, wenn diese Art des Unterrichtens neu eingeführt werden soll. Um eine solche Reform in Gang zu bringen, sind außerdem große Anstrengungen in der LehrerInnenfortbildung nötig. Ich möchte hier zwar nicht ins Detail gehen, aber ich sehe folgende drei wichtige Aspekte: Erstens: LehrerInnen müssen in der gleichen Weise lernen, wie die Kinder in den Klassen lernen sollen. Fast jede Einheit in diesem Programm ist für Erwachsenen genauso wirksam wie für Kinder. Durch die Einheiten lernen die LehrerInnen selbst etwas Neues und können spüren, wie es für die Kinder ist, so zu lernen. Zweitens: die LehrerInnen sollten zunächst nur mit ein oder zwei Kindern zur gleichen Zeit arbeiten, so daß sie sie genau genug beobachten können, um zu erfahren, was das Programm für die Kinder beinhaltet. Drittens: es hat sich als sinnvoll herausgestellt, wenn die LehrerInnen Filme oder live-Demonstrationen vom Unterricht sehen, in dem Kinder auf diese Art lernen, so daß sie daran zu glauben beginnen, daß es tatsächlich möglich ist, so zu unterrichten. Ein vierter Aspekt ist von etwas anderer Art: Einmal abgesehen von dem/der LehrerIn, der/die diesen Schritt alleine auf der Basis eines einzigen Kurses oder des LehrerInnenhandbuchs unternimmt, was nur selten vorkommt, brauchen die meisten LehrerInnen Unterstützung oder wenigstens einige MitstreteirInnen in der Nähe, die das Gleiche versuchen und mit denen sie Erfahrungen austauschen können. Eine noch größere Hilfe ist die Anwesenheit von erfahrenen Lehrkräften, zu denen sie mit ihren Fragen und Problemen gehen können.

Eine Evaluationsstudie

Was die Kinder in einem solchen Unterricht tun, ist lebendig und interessant, aber darüber hinaus würde man sicher gerne wissen, was für einen Unterschied dieser Ansatz für sie auf längere Sicht macht. Außerdem könnte es interessant sein, die Kinder, die an diesem Programm teilgenommen haben, irgendwie mit Kindern zu vergleichen, die herkömmlich unterrichtet wurden, um zu sehen, ob sie sich in vergleichbaren Situationen unterschiedlich verhalten.

Eine meiner Überlegungen, in welcher Hinsicht sich diese Kinder von anderen unterscheiden könnten, erwuchs daraus, daß uns viele LehrerInnen aus diesem Programm erzählten, ihren Kindern fielen nun mehr Aktivitäten ein, sie stellten mehr Fragen und beantworteten sie auch, was auch hieße, daß sie eigene Ideen hätten und in diese Ideen vertrauten. Ich wollte sehen, ob es tatsächlich so war.

Meine zweite Überlegung war anspruchsvoller. Wenn diese Kinder wirklich geistig reger geworden waren, ihr Denken erwacht war - und das nicht nur innerhalb der Schule, sondern auch außerhalb -, dann wären sie möglicherweise auf längere Sicht den anderen Kindern gegenüber in ihrer intellektuellen Entwicklung ein Stück voraus.

Alles in allem konnten diese beiden Aspekte der Überprüfung meiner Grundannahme dienen, daß die Entwicklung von Intelligenz davon abhängt, wundervolle Ideen zu haben und genügend Selbstbewußtsein, diese dann auszuprobieren, und daß Schulen eine Auswirkung auf die fortdauernde Entwicklung von wundervollen Ideen haben. Die Studie ist bereits anderswo erschienen (Duckworth 1978), aber ich möchte sie hier kurz zusammenfassen.

Die Evaluationsstudie, die ich durchgeführt habe, hatte zwei Phasen. Das Vorgehen in der ersten Phase war teilweise von einer Physikprüfung an der Cornell Universität unter Leitung von Philip Morrison inspiriert. Seine Prüfung fand im Labor statt. Die StudentInnen bekamen jede/r einen Satz Materialien, der für alle gleich war, aber keine spezifische Aufgabe. Das Problem, das ihnen gestellt wurde war, ein Problem zu finden und es dann zu bearbeiten. Für Morrison ist das Finden der eigenen Frage das Entscheidende, genau wie für Kevin, Stephanie und den Mathematiker. Bei dieser Prüfung wurden anhand der Probleme, die die StudentInnen für sich selbst aufwarfen, klare Unterschiede im Grad des Wissens und des Erfindungsreichtums deutlich, und ihre Arbeit konnte nur so gut sein, wie die entsprechende selbstgestellte Aufgabe.

Bei unserer Untersuchung mußten wir dieses Vorgehen etwas modifizieren, damit es sich für 6-jährige Kinder eignete. Unsere allgemeine Frage war, was Kinder mit einem oder mehr Jahren Erfahrung in diesem Programm mit bestimmten Materialien machen würden, wenn man sie sich selbst überließe, völlig ohne LehrerIn. Wir wollten wissen, ob die Kinder, die an diesem Programm teilgenommen hatten, mehr Einfälle für den Umgang mit solchen Materialien hatten als andere Kinder.

Die Materialien, die wir aussuchten, waren natürlich nicht die gleichen, die die Kinder während des Programms untersucht hatten. Wir wählten zwei verschiedene Arten von Materialien aus: auf der einen Seite importierte Materialien, die die Kinder noch nie zuvor gesehen hatten - Farbfilter aus Plastik, geometrische Musterblöcke, faltbare Spiegel, kommerzielle Bausätze, usw. Auf der anderen Seite entschieden wir uns für Materialien, die allen Kindern bekannt waren, egal, ob sie an dem Programm teilgenommen hatten oder nicht - Zigarettenfolie, Streichholzschachteln, Gummiringe aus Fahrradschläuchen, Drahtstücke, Holz, Metall, leere Spulen, usw.

Aus jeder Klasse wählten wir willkürlich ein Dutzend Kinder aus und sagten ihnen in ihrer Sprache, daß sie in den vorbereiteten Raum gehen sollten und mit den Materialien, die sie dort finden würden, machen könnten, was sie wollten. Wir sagten ihnen auch, daß sie sich im Zimmer frei bewegen dürften, miteinander reden könnten und mit ihren Freunden gemeinsam arbeiten dürften.

Wir untersuchten 15 Experimentierklassen und 13 Vergleichsklassen vom 1. bis zum 7. Schuljahr. Um die Ergebnisse dieser Phase kurz und oberflächlich zusammenzufassen: wir fanden heraus, daß den Kindern, die an dem Programm teilgenommen hatten, tatsächlich mehr Ideen kamen, was sie mit den Materialien machen konnten. Typisch für die Kinder dieser Klassen war, daß sie sich erst das gesamte Angebot anschauten, davon einiges ausprobierten und sich dann hinsetzten, um mit Engagement und Konzentration zu arbeiten. Manchmal arbeiteten die Kinder allein, manchmal zusammen. Sie trugen die Materialien von einem Tisch zum anderen, und sie benutzten sie anders, als man es erwartet hätte. Auch, als die Zeit voranschritt, gab es keine Anzeichen dafür, daß ihnen die Ideen ausgingen. Im Gegenteil, ihre Arbeit wurde so interessant, daß wir immer enttäuscht waren, wenn wir nach 40 Minuten abbrechen mußten.

Im Gegensatz hierzu hatten die anderen Kinder weitaus weniger Ideen, was sie mit den Materialien machen konnten. Einerseits neigten sie dazu, einige Kinder, die die Leitung übernommen hatten, zu kopieren. Andererseits ließen sie oft eine angefangene Arbeit schnell liegen und gingen zu etwas anderem über. Es gab nur wenige Beispiele anspruchsvoller Arbeiten, bei denen ein Kind viel Zeit und Mühe aufgewandt hatte, um Schwierigkeiten zu meistern, die bei seiner Arbeit auftauchten. In einigen dieser Klassen hatten die Kinder nach 30 bis 35 Minuten keine Ideen mehr und beschäftigten sich nicht weiter.

Wir untersuchten in dieser Evaluationsstudie zwei Dimensionen: Die Vielfalt an Ideen, die in einer Klasse entstand, und die Gründlichkeit, mit der diese Ideen verfolgt wurden. In beiden Dimensionen war der Vorsprung der Experimentierklasse überwältigend. Diese erste Phase der Evaluation war ein Ersatz für das, was wir eigentlich gerne gewußt hätten. Im Idealfall hätten wir gerne herausgefunden, ob die Erfahrungen, die die Kinder im African Primary Science Program gemacht hatten, sie denkfähiger gemacht hatten, aufmerksamer für die Möglichkeiten, die in den alltäglichen Dingen lagen, die sie umgaben, fragender und erkundungsfähiger in ihrem Leben außerhalb der Schule. Es wäre spannend gewesen, dieser Frage nachzugehen, aber wir hatten dafür leider keine Zeit. Das Vorgehen, das wir dann tatsächlich entwickelt haben - wie oben beschrieben -, ähnelt wahrscheinlich der Schulsituation zu sehr, als daß wir daraus tragfähige Schlüsse ziehen könnten, wie die Kinder außerhalb der Schule sind. Wie auch immer - wenn Sie bereit wären, meinem Gedanken vorsichtig zuzustimmen, daß unsere Ergebnisse auf eine größere intellektuelle Aufgeschlossenheit hinweisen - auf eine Tendenz, wundervolle Ideen zu haben - dann ist die zweite Phase unserer Untersuchung für Sie sicher von besonderem Interesse.

Es ist meine Hypothese, daß diese geistige Aufgeschlossenheit der Motor der intellektuellen Entwicklung ist (operationalisiertes Denken nach Piaget). Natürlich gibt es hier ein Kontinuum: Kein normales Kind ist komplett denkunfähig, doch sind einige im Denken fähiger als andere. Ich behaupte außerdem, daß die Denkfähigkeit eines Kindes nicht für alle Zeiten festgelegt ist. Ich bin davon überzeugt, daß, wenn man den Kindern den Zugang zu den vielen faszinierenden Dingen des täglichen Lebens eröffnet, und sie spüren läßt, daß ihre Ideen Sinn machen und sie ihnen nachgehen dürfen, man ihre Tendenz, wundervolle Ideen zu haben, bedeutend beeinflussen kann. Das African Primary Science Program schien beides zu tun. Bis zum Zeitpunkt meiner Evaluation waren einige der Kinder bereits 3 Jahre in den Klassen. Ich nahm an, daß diese zwei oder drei Jahre besonderer geistiger Förderung möglicherweise - nur möglicherweise! - zu einem Unterschied in der intellektuellen Entwicklung der Kinder geführt hatten.

In der zweiten Phase der Evaluation haben wir die Kinder, die bereits an der ersten Phase teilgenommen hatten, noch einmal einzeln untersucht, indem wir ihnen durch eine ausgebildete Assistentin, die die Sprache der Kinder sprach, Piaget-Aufgaben stellen ließen. Die statistische Analyse ergab, daß bei fünf von sechs gestellten Problemen die Kinder aus den Experimentierklassen signifikant besser abschnitten, als die Kinder aus den Vergleichsklassen.

Dieses Ergebnis finde ich insgesamt ziemlich erstaunlich. Aber ich möchte hier vor allem auf einer spezifischen Interpretation dieses Ergebnisses bestehen. Auf keinen Fall möchte ich nämlich vorschlagen, daß die Beschleunigung des Durchlaufens der Piagetīschen Entwicklungsstufen das wichtigste Ziel der Bildung sein sollte. Deshalb möchte ich hier eine theoretische Anmerkung machen. Meine Ausgangsthese war, daß die Entwicklung der Intelligenz davon abhängt, wundervolle Ideen zu haben. Mit anderen Worten: es geht hier um Kreativität. Wenn Kinder die Möglichkeit haben, intellektuell kreativ zu sein - indem man ihnen die Gelegenheit gibt, sich mit der Welt intellektuell auseinanderzusetzen und ihre Ideen akzeptiert werden - dann lernen sie nicht nur etwas über die Welt, sondern darüber hinaus werden glücklicherweise auch ihre allgemeinen intellektuellen Fähigkeiten stimuliert.

Um es noch einmal anders zu sagen: Ich glaube, die Unterscheidung zwischen 'divergentem' und 'konvergentem' Denken ist eine zu starke Vereinfachung. Selbst wenn man ein Problem (konvergent) bis zum Ende durchdenkt, muß man (divergent) mehrere Hypothesen in Betracht ziehen und überprüfen. Die Schlußfolgerungen, zu denen Hank schließlich gekommen war, waren das Ergebnis eines brillianten, imaginativen (d.h. divergenten) Gedankens. Um Möglichkeiten überpüfen zu können, müssen wir sie erst entwerfen.

Schlußfolgerungen nach oben

Ich behaupte, daß Kinder kein eingebautes Tempo für ihre intellektuelle Entwicklung haben, oder, etwas eingeschränkter: Wenn es einen "eingebauten" Anteil im Entwicklungstempo gibt, dann ist er mininmal. Wundervolle Ideen zu haben - was ich für die Essenz der intellektuellen Entwicklung halte - hängt vielmehr in überwältigem Maße von den Gelegenheiten ab, solche Ideen haben zu können. Ich habe bis jetzt ausführlich darüber geschrieben, wie wichtig es für Kinder ist, ihre eigenen Ideen haben zu dürfen und an ihnen arbeiten zu können. Nun möchte ich die intellektuelle Basis für das Entstehen neuer Ideen betrachten.

Ich wehre mich stark gegen die Vorstellung, daß wir Kinder nur mit einem Satz intellektueller Prozesse auszustatten brauchen - mit einem trockenen, inhaltlosen Satz von Werkzeugen, die sie dann anwenden können. Ich glaube, daß sich diese Werkzeuge zwangsläufig entwickeln, wenn die Kinder etwas Wirkliches haben, worüber sie nachdenken wollen. Wenn sie dieses Wirkliche nicht haben, brauchen sie die Werkzeuge sowieso nicht. Das heißt für mich, daß es in Wirklichkeit keine inhaltlosen intellektuellen Werkzeuge gibt. Wenn ein Mensch über etwas Wissen verfügt, kann er versuchen, mit Hilfe dieses Wissens neue Erfahrungen, die damit verwandt sind, zu deuten. Er paßt die neue Erfahrung dem vorhandenen Wissen an. Unter Wissen verstehe ich nicht die verbale Zusammenfassung des Wissens von anderen. Ich meine weder Lehrbücher noch Vorträge, sondern ich meine das eigene Repertoire an Gedanken, Taten, Verbindungen, Ahnungen und Gefühlen, die ein Mensch hat. Einiges hiervon ist vielleicht aus etwas Gehörtem oder Gelesenem entstanden. Aber die Arbeit des Zusammensetzens und Deutens hat der/die Einzelne für sich selbst getan, und hierdurch sind wieder neue Möglichkeiten entstanden, Gedanken zueinander in Beziehung zu setzen.

Je größer das Repertoire an Handlungen und Gedanken ist, das einem Kind zur Verfügung steht - "Schemata" nach Piaget -, desto mehr Material hat es, um sich einen Reim auf die Welt zu machen. Die Essenz des afrikanischen Programms, das ich beschrieben habe, ist, daß die Kinder das Repertoire der Handlungen, die sie mit alltäglichen Dingen tun, vergrößern, woraus für sie die Notwendigkeit entsteht, im Kopf auch mehr Verbindungen zwischen ihren Gedanken herzustellen.

Lassen Sie uns einmal ein Kind betrachten, dem die Welt der alltäglichen Substanzen eröffnet worden ist, wie ich oben beschrieben habe. Es hat jetzt ein stark erweitertes Repertoire von Handlungen, die ausgeführt und Verbindungen, die hergestellt werden könnten. Es hat gesehen, daß ein Salzrückstand bleibt, wenn man Meerwasser kocht. Würde ein solcher Rückstand auch bleiben, wenn man Bier verkochen würde? Hätte man wieder Bier - schales Bier -, wenn man den erhaltenen Rückstand wieder in Wasser auflösen würde? Das Kind hat gesehen, daß es beim Auspressen von Blütenblättern eine farbige Flüssigkeit erhalten kann. Könnte man diese Flüssigkeit in Wasser geben, um farbiges Wasser zu erhalten? Könnte man auf diese Weise farbiges Kokosöl herstellen? All diese Fragen und die Handlungen, zu denen die Fragen führen, basieren darauf, daß dem Kind die Welt der alltäglichen Substanzen vertraut geworden ist.

Intelligenz kann sich nicht ohne Materie entwickeln, über die man nachdenken kann. Das Knüpfen von neuen Verbindungen hängt davon ab, ob zuerst genügend Wissen vorhanden ist, um auf dieser Basis andere Dinge tun zu können - andere Fragen zu stellen -, die nach komplexeren Verknüpfungen verlangen, um Sinn zu machen. Je mehr Ideen Menschen über etwas zur Verfügung haben, desto mehr neue Ideen kommen ihnen, und desto mehr können sie diese neu verknüpfen, um noch kompliziertere Schemata aufzubauen.

Piaget hat spekuliert, daß einige Menschen den Grad des formalen Denkens in einem bestimmten Gebiet erreichen, in dem sie sich auskennen - Autotechnik z.B. -, ohne die entsprechenden formalen Stufen auf anderen Gebieten zu erreichen. Das paßt zu dem, was ich hier zu entwickeln versuche. In einem Gebiet, in dem man sich gut auskennt, kann man viele Möglichkeiten in Betracht ziehen, und es erfordert formale Operationen, sie durchzuarbeiten. Wenn es kein Gebiet gibt, in dem man so sehr mit seinen Komplexitäten vertraut ist, daß man sich durch sie durcharbeiten kann, entwickelt man wahrscheinlich keine formalen Operationen. Genug über eine bestimmte Sache zu wissen, ist eine Voraussetzung dafür, um wundervolle Ideen zu haben.

Ich möchte eine abschließende Bemerkung machen. Die wundervollen Ideen, von denen ich spreche, müssen für die Außenwelt nicht immer wundervoll aussehen. Ich sehe keinen Unterschied zwischen den wundervollen Ideen, die viele Menschen schon hatten, und wundervollen Ideen, auf die noch niemand gekommen ist. Das heißt, die Natur kreativer Denkakte bleibt gleich, ob es sich nun um ein Kleinkind handelt, das zum ersten Mal eine Verbindung zwischen den Sachen, die es sieht, und den Sachen, nach denen es greift, herstellt, oder um Kevin, der die Idee hatte, die Strohhalme der Länge nach zu ordnen, oder um einen Musiker, der eine harmonische Sequenz erfindet, oder um einen Astronom, der eine neue Theorie über die Entstehung des Universums entwickelt. In jedem Fall wurden neue Verbindungen zwischen Sachen geknüpft, die schon gemeistert wurden. Je mehr wir Kindern helfen, wundervolle Ideen zu haben und mit sich deshalb zufrieden zu sein, desto wahrscheinlicher ist es, daß sie eines Tages auf wundervolle Ideen stoßen, die noch kein anderer Mensch gehabt hat.

Literaturhinweise: nach oben

Eleanor Duckworth: The African Primary Science Program: An Evaluation and Extended Thoughts. Grand Forks: North Dakota Study Group on Evaluation 1978.

African Primary Science Program / Kenya Primary Science: Common Substances Around the Home. Teachers Guide. (Viele Fassungen in den englischsprachigen afrikanischen Ländern seit ca. 1965.)

Elementary Science Study: Batteries and Bulbs. Teacherīs Guide. Nashua/NJ: Delta Education (viele Auflagen seit ca. 1970).

Eleanor Duckworth ist Hochschullehrerin an der Harvard University, Boston.