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Karin Ernst

Den Fragen der Kinder nachgehen

Veröffentlicht in:
Die Grundschulzeitschrift 98/Okt. 1996, S. 6-11.
(Überarbeitete Fassung), © Karin Ernst 1996, 2001.


Das Problem: Unterricht und Kinderfragen
Fragen wachsen lassen
Was lernen Kinder durch eigene Fragen?
Kinderfragen und Unterrichten

Das Problem: Unterricht und Kinderfragen nach oben

Offener Unterricht hat in Deutschland inzwischen viele Formen gefunden. Selten jedoch gelingt es in seinem Alltag, das, was Kinder fragen, denken, über die Welt vermuten und wissen wollen, zum Ausgangspunkt von Lernen zu machen. Kinder können sich zwar oft frei entscheiden, wann und mit wem sie an ihren Wochenplan-Aufgaben arbeiten - was sie dort arbeiten und wie sie zu ihrem Ziel kommen, ist ihnen zu einem großen Teil vorgegeben. Daß Kinder Fragen stellen, ist zwar erwünscht, aber wenn sie sie stellen, werden sie von den Lehrerinnen und Lehrern in der Regel auf Bücher verwiesen, in denen die ‘richtigen’ Antworten schnell gefunden werden können, unabhängig davon, ob Kinder sie wirklich verstehen. Eine genauere Befragung und Erkundung der wirklichen Welt, in der die Frage eines Kindes entstanden sein mag, findet nicht statt. Warum eigentlich nicht?

Das Bemühen von LehrerInnen, im (offenen) Unterricht an den Fragen der Kinder anzuknüpfen, steckt meiner Beobachtung nach in folgendem Dilemma: Entweder erscheinen die Fragen der Kinder trivial, weil sie alltäglich und von spontanem Interesse getragen sind, aber dann nichts mit den in Rahmenplänen und Schulbüchern angestrebten Wissensstücken zu tun haben, die darauf angelegt sind, alltägliche Probleme mit irgend einer Begrifflichkeit zu überhöhen. Oder aber Lehrerinnen und Lehrer vermuten, daß Kinder so tiefgehende, umfassende Fragen stellen, daß sie selbst und mit ihnen die Unterrichtssituation überfordert sind, hierfür Antwortmöglichkeiten zu arrangieren. Beide Sichtweisen führen deshalb zu einem eher zögernden und inkonsequenten Umgang mit Fragen, die Kinder stellen. Und da in Deutschland wenig Methoden bekannt sind, mit denen Kinder nach Antworten suchen können, versickern die Kinderfragen schließlich zwischen den wortgewaltigen Scheinantworten von Kindersachbüchern, die vorgeben, Kindern die Welt zu erklären. Auf diese Weise kommt das Nachdenken über Möglichkeiten, den Fragen der Kinder im Unterricht Raum zu geben, jedoch nicht vom Fleck.

In Heft 86/1996 der Grundschulzeitschrift, für das ich diese Einleitung geschrieben habe, geht es um den aktiven und produktiven Umgang mit Fragen von Kindern. Dort werden Wege aufgezeigt, Kinder im Unterricht dabei zu unterstützen, ihren Fragen nachzugehen und dadurch zu bedeutsamen Erkenntnissen zu gelangen. Die pädagogische Diskussion zu diesem Lernverständnis findet immer noch vorwiegend im englischsprachigen Ausland statt, wo es seit den 60er Jahren eine kontinuierliche Entwicklung des Ansatzes gegeben hat, der in Deutschland vor etwa 20 Jahren als "Entdeckendes Lernen" bekannt wurde, ohne in der Schule praktische Bedeutung zu gewinnen. Um auch bei uns zu einer solchen Diskussion einzuladen, gebe ich im folgenden einige Hinweise auf einen Unterricht, in dem es möglich ist, den Fragen der Kinder nachzugehen.

Fragen wachsen lassen nach oben

Aktives Lernen beginnt mit Fragen, doch müssen die "ersten" Fragen, die von Kindern zu Beginn einer neuen Unterrichtseinheit gestellt werden, noch nicht besonders tragfähig für einen längeren Prozeß sein. Manche Fragen holen ein neues Thema in den vertrauten Horizont ("Hatten die Häuser in der Steinzeit auch Türen?"), manche Fragen sind Teil einer Kette, in der neue Fragen eher spielerisch und formal generiert werden ("Wie wächst Obst?" - "Sind Blaubeeren Obst?" - "Sind Kürbisse Obst?"- "Welches Obst wächst in Spanien, in..."), andere kommen gar nicht als Frage daher, sondern als Irritiert-sein, Sich-Wundern oder Staunen. In diesen Fragen sind verschiedene Wege der Beantwortung enthalten, die die Lernenden zunächst noch nicht überblicken. Die Spannweite reicht vom schnellen Nachschlagen in geeigneten Büchern bis zur komplexen Langzeit-Beobachtung, bei der viele neue Fragen entstehen können. Und manche Idee ("Ich hab’ mit vorgestellt, ich könnte eine Zeitmaschine bauen.") muß dabei vorsichtig in die Realität geholt werden.

In dieser ersten Fragephasen brauchen die Lernenden Materialien, mit denen sie direkt umgehen können, und Gelegenheit, auf Erkundung zu gehen. Sie brauchen geduldige Lehrerinnen und Lehrer, die mit ihnen über das reden, was sie wundert, die mit ihnen gemeinsam nachdenken, und die Wege anbahnen, selbst etwas herauszufinden. Nur selten brauchen sie schnelle Antworten oder Bücher.

"Zweite" Fragen, die einen Lernprozeß über längere Zeit tragen, entstehen allmählich im direkten Umgang mit der Sache, um die es geht. Diese Fragen sind konkret und mehr oder minder beantwortbar. Markus und Michel beispielsweise, die die Idee hatten, selbst Murmeln herzustellen, dachten zunächst über verschiedene Möglichkeiten nach, etwas Rundes zu produzieren (Feilen? Sägen? Schnitzen? Aus Knete formen? Glas blasen? ...) und kamen schließlich auf Lötzinn, den sie in eine runde Form gießen wollten. Nun mußten sie ein Material finden, das sowohl leicht formbar war, wie stabil genug, um den heißen Lötzinn auszuhalten (Knete? Tonmehl?). Dabei erfuhren sie, daß ihre Ideen nicht auf Anhieb klappten. Schließlich gelang ihnen die Herstellung eines rundlichen Körpers - keinesfalls einer Kugel! -, und sie waren mit ihrer Arbeit sehr zufrieden, denn sie hatten ihren Erfindungsprozeß in allen Phasen bewußt durchlebt und durchdacht. Weil sie selbst Gründe für ihre Mißerfolge gefunden hatten, waren sie auch zuversichtlich, in einem neuen Anlauf mit mehr Zeit und den richtigen Materialien zum gewünschten Ergebnis zu kommen.

In der zweiten Fragephase nehmen die Kinder also nicht fertiges und richtiges Wissen auf, sondern produzieren Wissen durch eigenes Denken und Handeln und durch aktive Entscheidungen über ihr Vorgehen. Für sie ist nicht ‘der Weg das Ziel’, sondern sie finden einen Weg und kommen mit ihm zum Ziel, auch wenn sie zwischendurch nicht so genau wissen, wo es lang geht. Lehrerinnen und Lehrer, die mögliche Wege kennen, sind ihnen hierbei eine große Hilfe. Bücher können zu Partnern im Arbeitsprozeß werden.

In solchen Entdeckungsprozessen sind oft einfachere "dritte" Fragen verborgen, die zu grundlegenden Einsichten führen können. Als Daniela mit Holzbausteinen eine Brücke und dann mit kleinen Ziegeln ein Haus bauen wollte, war die Erkenntnis, daß ihre Bauwerke nur halten, wenn sie die Steine "auf Lücke" setzt, ein solche ‘wundervolle Idee’. Bülent stand, als wir Wolle mit Zwiebelschalen und Lindenblättern färbten, beinahe stundenlang vor den Töpfen und beobachtete das Thermometer - nahm es aus dem heißen Wasser heraus und sah es fallen, steckte es wieder hinein und sah es plötzlich ansteigen, bemerkte, daß es zum Schluß immer langsamer anstieg, versuchte es noch einmal... Ihm kam die Idee, es mit Tee zu versuchen. Würde es da wohl auch funktionieren?... - Für Bülent war das Thermometer als Meßinstrument in seiner Hand, der plötzlich entdeckte Zusammenhang von Ursache, Wirkung und deren Meßbarkeit, von so zentraler Bedeutung, daß er darüber alles andere vergaß.

Wenn Lernende solchen grundlegenden Einsichten auf der Spur sind, ordnen sie für sich die Welt neu, selbst wenn die Einsicht an sich alt ist. Wieder brauchen sie GesprächspartnerInnen in Erwachsenen und Kindern, die an diesen faszinierenden Gedanken Anteil nehmen und eigene beisteuern. Im Unterricht kann es wichtig sein, diesen neuen Einsichten weiter Nahrung zu geben und für das fragende Kind das eigentliche Thema in den Hintergrund rücken zu lassen.

Was lernen Kinder durch eigene Fragen? nach oben

Wenn Kinder auf diese Weise etwas herausfinden, fragen sie weniger nach Faktenwissen als nach Erkenntnissen, die für sie Sinn machen und die in Zusammenhang mit einer wirklichen Erfahrung stehen. Die Ergebnisse, die sie erhalten, sind tatsächlich da, hier und jetzt erfahrbar, überprüfbar, und können von anderen direkt bestätigt oder in Zweifel gezogen werden. Mit der niedlichen ‘Kinderfrage’ des Jargons hat das wenig zu tun, und ich denke, es verbietet sich auch, hier von ‘Trivialitäten’ zu reden. Ich habe bereits an anderer Stelle gefragt, ob es für Kinder nicht von größerer Trivialität ist, wenn sie - sorgfältig didaktisch reduziert und lehrgangsmäßig aufbereitet - einen Merksatz über ‘Nesthocker und Nestflüchter’ aufschreiben, statt ihre eigenen Haustiere genau zu beobachten. "... Erkenntnisse über die Struktur von Lernprozessen führen zu der Auffassung, daß menschliche Erkenntnis konstruierend und handelnd-deutend sowie gekoppelt an Emotionen und Kommunikationsprozesse erfolgt, nicht durch die Übermittlung von systematisierten Inhaltselementen und Ergebnissen fachwissenschaftlicher Strukturierung. Entsprechend müssen andere Formen der Auseinandersetzung und der Bearbeitung von Inhalten gefunden werden, wobei vor allem reflektierte Selbststeuerung als pädagogisches Konzept wirksam wird.", schreibt die Bildungskommission NRW in ihrer vielbeachteten Denkschrift "Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft." Der hier dargestellte Unterrichtsansatz wäre ein Weg dahin.

Aber dieser Unterricht hat auch Begleiterscheinungen, die erst einmal verwirren oder Angst machen, besonders, wenn man im üblichen Sinne gut unterrichtet. Für ein Thema wird mehr Zeit gebraucht, nicht alle Kinder arbeiten an den gleichen Fragen, es ist nicht immer klar entschlüsselbar, was Kinder eigentlich denken, und nicht immer weiß man als Erwachsener, wie man sie eigentlich dabei unterstützen soll. Nicht alle Kinder sind brillante EntdeckerInnen, und oft wird erschreckend deutlich, wieviele Probleme Kinder haben können, mit ihrer Welt sinnvoll umzugehen, wenn sie keine Merksätze wiedergeben, sondern ihren eigenen Gedanken Ausdruck verleihen. Auch erscheint das, was Kinder herausfinden und in ihrer eigenen Form dokumentieren, manchmal wenig im Vergleich zu einem von Erwachsenen gestalteten Arbeitsbogen oder einer Schulbuchseite, die gemeinsam besprochen wird. Wo bleibt das Überblickswissen? Wo die Ergebnissicherung?

Bei der Sekundäranalyse von mehr als 100 Untersuchungen, die die Lernfortschritte von SchülerInnen beim Entdeckenden Lernen erforscht haben, ergab sich in den USA 1983 die Überlegenheit dieser Lernform gegenüber dem traditionellen Unterricht: die Schülerinnen schnitten im Durchschnitt in der allgemeinen Leistungsfähigkeit, beim Denken und beim methodischen Untersuchen, aber auch in den verwandten Bereichen Lesen, Mathematik, Kommunikation und Sozialkunde besser ab. Auch hatten sie insgesamt ein positiveres Verhältnis zu den Naturwissenschaften als ihre traditionell unterrichteten MitschülerInnen.

Ergebnisse ‘sichern’ Lernende beim Entdecken in mehrfacher Weise: sie erzählen gerne von dem, was sie herausgefunden und welche Schwierigkeiten sie dabei bewältigt haben. Durch Nachfragen von anderen und häufiges Erklären und Demonstrieren behalten sie auch im ganz herkömmlichen Sinne, was sie gelernt haben. Gleichzeitig findet eine andere Art von Absicherung statt: da auch Irrtümer vorkamen und Mißerfolge ausgehalten werden mußten, ist die eigene Erkenntnis bewußt in einem komplexen System von Denkwegen und möglichen Lösungen verortet; ein richtiges Ergebnis wurde nicht einfach nur hingenommen, der Weg zu ihm hin kann immer wieder gegangen werden. Andere Ergebnisse verwandeln sich aber auch einfach in Erfahrungen und sind im einzelnen nicht mehr wichtig.

Die vielen einzelnen Ergebnisse von Kindern miteinander in Beziehung zu setzen und in einen größeren Rahmen einzuordnen, ist eine von vielen Aufgaben, die LehrerInnen beim Entdeckenden Lernen haben.

Kinderfragen und Unterrichten nach oben

Was tun LehrerInnen sonst noch? Von weitem besehen, wenig. Die Kinder bringen die Materialien mit, entwickeln die Untersuchungspläne, schreiben und malen umfangreiche Arbeitsdokumentationen, und manchmal leiten Kinder sogar die Präsentation der Ergebnisse. Diese Handlungsfähigkeit erreicht ein Lehrer oder eine Lehrerin jedoch nicht durch Abwarten und Zusehen, sondern durch

Unterrichten wird damit (wieder) zu einer spannenden, produktiven Tätigkeit, die es gilt, anspruchsvoll und professionell zu gestalten. Die folgenden Gedanken, Erfahrungen und Materialien sind hierfür hoffentlich eine konkrete Hilfe.