Auszug aus:
Karin Ernst:
Eine Lernwerkstatt entsteht immer wieder neu…
Zur Geschichte und Konzeption von Lernwerkstätten in Deutschland.
In: Ute Zocher (Hrsg.): Lernwerkstätten in Theorie und Praxis. Beltz 2004 (noch nicht erschienen)
© Karin Ernst 2003
Grundannahmen
Lernen wird als aktive Konstruktion von Erkenntnis durch die Lernenden betrachtet, es geht um wirkliches Verstehen von Sachverhalten und Zusammenhängen, um Lernen, das Sinn macht, und nicht um die Speicherung von Faktenwissen.
Die Auseinandersetzung zwischen Lernenden und Lehrenden ist dialogisch, entwickelnd und unterstützend; die Unterschiedlichkeit der Kinder kann in ihrer Vielfalt gewürdigt werden, ohne die einzelnen in ihrem Leistungswunsch und –vermögen zu behindern.
Der Austausch in der Lerngruppe trägt zum gemeinsamen Erkenntnisfortschritt bei und macht es möglich, persönlich erworbenes Wissen in allgemeine Zusammenhänge einzuordnen und das eigene Lernen nach Qualität und Quantität zu beurteilen.
Fragen entstehen lassen
Entdeckendes Lernen beginnt damit, dass etwas fraglich wird. Sich wundern, staunen, irritiert sein, provoziert werden, mit Zweifeln konfrontiert sein – all dies kann neues Lernen nach sich ziehen, wenn die Lernumgebung es fördert.
Dass Lernende hierbei vielfältige “naive” Vorstellungen mit sich bringen und die Welt mit Alltagstheorien erklären, die sie nur ungern aufgeben, sollten Lehrende akzeptieren und zum Ausgangspunkt des Lernens machen. Es ist für alle spannender und für den Lernerfolg wirksamer, aktiv Wege zu ersinnen, um unzureichende Erklärungen in gute zu verwandeln, als die richtigen Merksätze auswendig lernen zu lassen.
Weil Alltagstheorien meist auch dann erhalten bleiben, wenn sie durch neues Faktenwissen überlagert werden, liegt hier eine besondere Herausforderung für Lehrerinnen und Lehrer, sich mit geeigneten Wegen der Lernförderung auseinanderzusetzen.
Fragen nachgehen
Entdeckende Lernprozesse unterscheiden sich fundamental von allem, was die Schule in der Regel über Lernen als effektives Speichern von geordnetem, “richtigem” Wissen annimmt. Im Einklang mit der aktuellen Lernforschung wird davon ausgegangen, dass unser Wissen assoziativ, komplex und verbunden mit persönlichen Erfahrungen in konzeptuellen Netzen gespeichert ist, und dass durch lernende Aktivitäten neue Erkenntnisse in dieses Netz eingewoben und mit dem vorhandenen Wissen verknüpft werden.
Deshalb ist es wichtig, die vorhandene Denkstruktur allmählich ins Bewusstsein zu rücken – durch konzeptuelle Landkarten und andere kreative Methoden, durch Fördern von Erinnerungen und durch Äußern von Vermutungen und Voraussagen zur eigenen Arbeit.
Besonders, wenn Entdeckendes Lernen anfängt, ist eine “Wuselphase” nötig, in der alle möglichen Ideen ausprobiert und wieder verworfen werden. Hieraus schälen sich allmählich einzelne Fragenkomplexe heraus, über die man Neues herausfinden möchte. Der Mut, sich auf eine entsprechende Untersuchung einzulassen, wird sehr gestärkt, wenn man eine Idee hat, wie man dabei vorgehen kann, und wenn einem Lehrerin oder Lehrer vermitteln, dass man nicht völlig auf dem Holzweg ist.
Während der Arbeit ist es immer wieder angebracht, die neu entstandenen Erkenntnisse zu sichten und zu ordnen und mit anderen darüber zu reden.
Dokumentation und Präsentation der (vorläufigen) Ergebnisse sind Verarbeitungsformen, die die konkret untersuchenden Handlungen in Symbolstrukturen fassen helfen (Sprache, Zahlen, Schaubilder, Theaterstücke, Geschichten), die wiederum die Verankerung der neuen Erkenntnisse im Denken unterstützen.
Entdeckendes Lernen erfordert für alle diese Tätigkeiten Zeit und die Möglichkeit, viele verschiedene Wege auszuprobieren.
Die Komplexität des Wissens
Beim Entdeckenden Lernen kommt es darauf an, nicht einen vorgegebenen, bereits didaktisch reduzierten Stoff abzudecken, sondern die Komplexität des Wissens zu enthüllen, sie aufzudecken. Dies gelingt dann, wenn man möglichst viele persönliche Zugänge zu einem Thema hat und seine Fragen in der Wirklichkeit findet.
Dabei kann es natürlich auch weiterhin zu Fehldeutungen kommen, doch zeigen unsere Erfahrungen, dass die konkreten Gegenstände, mit denen Kinder sich beschäftigen, sozusagen von sich aus “richtig antworten”, wenn man sich sorgfältig mit ihnen beschäftigt und aufkommende Zweifel zum Anlass nimmt, noch einmal neu nachzudenken.
Die Rolle der Lehrenden
Dafür zu sorgen, dass kindliche Entdeckungsprozesse nicht in die Irre gehen, ist eine der Aufgaben der erwachsenen Pädagoginnen und Pädagogen. Sie können Situationen schaffen, in denen Kinder sich über etwas wundern und beginnen, Fragen zu stellen, sie sollten aber vor allem sorgfältig hinhören und zu verstehen versuchen, wie Kinder sich die Welt erklären, um sie durch aufkommende Irritationen hindurch verständnisvoll zu begleiten.
Methode
Entdeckendes Lernen braucht Methode. Es findet nicht schon dann statt, wenn man sich als Lehrerin oder Lehrer mit den Kinder gemeinsam auf die Fragen an die Welt einlässt und abwartet, was passiert. Wie jede andere Form der Unterrichtsgestaltung ist Entdeckendes Lernen eine Kunst, die es zu erlernen gilt.